Der Schlafsaal wird zum Hörsaal
Baldur sitzt in der ersten Reihe. Vor ihm liegen Bücher, Zeitungsartikel und wissenschaftliche Fachliteratur. Ein wenig sieht der inzwischen 70-Jährige aus wie in den 90er Jahren, als er fast täglich im Lesesaal der Erlanger Uni-Bibliothek anzutreffen war. Damals war er, der studierte Mathematiker, noch Akademischer Rat, erzählt er. Das aber ist lange her, über 15 Jahre. Für Baldur eine Ewigkeit. Zwischen damals und heute liegen Welten: mit Entmündigung, Zwangsräumung, sozialem Abstieg. Heute lebt er in einer Verfügungswohnung der Stadt Erlangen; für die warmen Mahlzeiten sucht er die Tagesstätte in der Heuwaagstraße auf. Sein Wissensdurst aber ist ungebrochen – und wird nun endlich wieder gestillt.
Denn der Verein Straßenkreuzer, der das gleichnamige Sozialmagazin veröffentlicht, gibt mit seiner neuen Initiative allen Menschen die Chance auf Bildung. „Niemand darf von Wissen ausgegrenzt werden“, sagt Straßenkreuzer-Chefredakteurin Ilse Weiß. Da wohnungslose und bedürftige Menschen nie oder nur ungern in herkömmliche Bildungseinrichtungen oder Unis gehen, kommen die Professoren zu ihnen. In die Notschlafstelle Domus Misericordiae, das Haus Großweidenmühle oder, wie an diesem Nachmittag, zur Heilsarmee in die Gostenhofer Hauptstraße.
Schon der Auftakt der ungewöhnlichen Vorlesungsreihe zeigt, wie überfällig das Projekt ist. Die Stühle des großen Saales im Haus Rothstein sind schnell besetzt; Papier und Kugelschreiber sind griffbereit. Die Aufregung ist groß unter den Teilnehmern. Immerhin haben die Frauen und Männer zum Teil vor Jahrzehnten die Schulbank gedrückt. Eine halbe Stunde Vortrag kann für Menschen, die psychisch krank sind oder am Abgrund stehen, ganz schön lang sein. Ist sie aber nicht – wenn der Referent Hans Kudlich heißt.
Der Lehrstuhlinhaber für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie an der Erlanger Uni hat das Publikum sofort auf seiner Seite. So locker und launig können wohl nur wenige über die trockene Materie sprechen. „Wozu brauchen wir eigentlich Gesetze“, fragt er eingangs rhetorisch. Für die Beantwortung hat sich der Jurist ganz schön viel einfallen lassen. Nicht ein halbstündiger Monolog zeigt die Notwendigkeit von Recht und Gesetzen auf, sondern eine nette kleine Geschichte mit vielen Schaubildern. Sehr anschaulich und verständlich macht Kudlich deutlich, welches Dilemma entstehen kann, wenn von drei Brüdern einer stirbt, aber niemand weiß, wie mit dessen Erbe – im konkreten Fall 132 Schafen – zu verfahren ist. Noch vertrackter wird es, wenn die 132 Tiere aus ehemaligen Geschenken, also Schafen, der beiden Brüder entstanden sind. Wie nun soll der Dorfälteste (Richter gibt es in diesem Gemeinwesen nicht) entscheiden? Nach dem Prinzip der brüderlichen Teilung oder auf Grundlage des Opferquotenvergleichs – wie es in der Fachsprache heißt?
Schon während des Vortrags diskutieren die Anwesenden – die Kudlich freundschaftlich „Kollegen“ nennt – eifrig mit, bringen in die Debatte raffinierte Ideen und Überlegungen ein, die selbst den ausgewiesenen Experten erstaunen. „Recht ist nicht gleichbedeutend mit Gerechtigkeit“, erläutert der Jurist. Was eine Gesellschaft unter Recht und Gerechtigkeit verstehe, sei abhängig von Zeit, Ort und den dort jeweils gültigen Wertvorstellungen. „Das Gesetz muss Regeln schaffen, die für möglichst viele Fälle gelten“, so Kudlich, „es kann nicht jedes Einzelschicksal berücksichtigen.“
Beim Wort Einzelschicksal dürfte Baldur hellhörig werden. Schon vor Jahren hat er seinen persönlichen Rachefeldzug gestartet – gegen die seiner Meinung nach unwissenden und ungerechten Richter und Juristen. Von Hans Kudlich aber ist er angetan. „Der Vortrag hat mir sehr gut gefallen“, sagt er. Der Wissenschaftler habe sich auf das Referat gut vorbereitet, stellt er anerkennend fest. Das Thema Jura interessiert den Erlanger seit langem. Aber auch andere Vorlesungen will er besuchen. „Ich bin schon eingeschrieben“, sagt er fachmännisch. Die Straßenkreuzer Uni sei für ihn mittlerweile die einzige Möglichkeit, sich weiterzubilden. Ein bisschen habe er nostalgische Gefühle: „Die akademische Lehre fehlt mir schon“, sagt er und macht sich auf den Weg – heim in die Universitätsstadt Erlangen.
Astrid bleibt noch eine Weile. Die 40-Jährige hat Zuflucht gefunden im Haus für Frauen an der Großweidenmühlstraße, einer städtischen Einrichtung für wohnungslose Frauen. Die Vorlesung hat ihr gut getan: „Man kann nie genug lernen im Leben“, sagt sie. In der Welt der Akademiker war sie, die als Kind geschlagen und als Erwachsene ausgebeutet wurde, bisher nicht unterwegs. „Ich muss mich natürlich erst an Seminare gewöhnen.“ Dafür ist sie auf dem besten Weg; wichtige Punkte hat sie sich notiert. „Ich konnte dem Vortrag gut folgen“, betont sie, „ der Referent war sehr freundlich“. So freundlich, dass er Astrid am Ende sogar sein Skript überlässt.
Wiederkommen will auch der Professor. Vielleicht zur Abschlussfeier, sagt er. Das ungewohnte Umfeld hat ihn neugierig gemacht: „Ich weiß nichts von den Schicksalen der Menschen“, betont er. Noch nie ist er bei der Heilsarmee gewesen, erzählt er. Deshalb sei er froh über diesen Kontakt. Eines freut Kudlich ganz besonders: „Die Männer und Frauen haben so intensiv am Gespräch teilgenommen, mehr als meine Studenten.“ Die in der richtigen Uni.
Sharon Chaffin, Nürnberger Zeitung, 13.5.2010