Führung zu den Schattenseiten des Nordens
Ungewöhnliche Orte, die ungewöhnliche Geschichten erzählen: Bei «Schicht-Wechsel» lernt man die Nordstadt aus der Perspektive von Armen und Obdachlosen kennen.
Bertram Sachs weiß, wovon er spricht. Der 50-jährige Nürnberger war selbst ein Jahr «auf Platte», also obdachlos. Die Orte, zu denen er die rund 20 Zuhörer führt, kennt er aus eigener Erfahrung. Etwa die Fachstelle für Wohnungsfragen und Obdachlosigkeit des Sozialamtes am Kirchenweg 56. Hier startet die rund zweistündige Führung. Als Sachs vor fünf Jahren wieder ein Dach über dem Kopf haben wollte, verhalf ihm jenes Amt zu einem Platz in einer privaten Pension. Eine Zwischenstation.
«Ich wollte nicht in einem Dreibettzimmer mit lauter Alkoholikern und Leuten, die sich nicht waschen, wohnen», erzählt er. Ein Mord im Nachbarzimmer war ein «Schlüsselerlebnis», das er für den Absprung brauchte. Sechs Wochen später vermittelte ihm die Stadtmission eine Wohnung. Sachs: «Ich bin den Mitarbeitern dort zu Dank verpflichtet, dass sie so schnell geholfen haben.» Aber dazu später.
Zweite Station Friedrich- Ebert-Platz: «Ein ganz wichtiger Ort», zumindest früher – vor den Zeiten des U-Bahn-Baus. Damals standen nicht nur mehr Bäume hier, der Platz war auch ein beliebter Treffpunkt von Leuten mit wenig Geld, die hier ihr Bier getrunken haben. «Denn nicht jeder kann sich einen Besuch im Biergarten leisten», erzählt Sachs. Schon damals kontrollierte die Polizei stichprobenweise, aber jetzt käme es immer wieder vor, das man teilweise bis zu sechs Mal am Tag seine Papiere zücken müsse. «Eine Verdrängungspolitik, weil die U-Bahn kommt», kritisiert Sachs, der die Gruppe zum nächsten Ziel führt: Domus, das Haus der Barmherzigkeit, an der Pirckheimerstraße. Es befindet sich seit 1930 – mit Unterbrechung während des Zweiten Weltkrieges – in der Trägerschaft des Caritas-Verbandes.
«Achtung, bitte achten Sie auf ihre Wertgegenstände» steht in großen Lettern an der Tür der Notschlafstelle für Männer im Rückgebäude. In zwei Zimmern drängen sich je neun Betten, auf denen Rucksäcke und Plastiktüten auf die Rückkehr ihrer Besitzer warten. Anders als in der städtischen Notschlafstelle für Männer in der Großweidenmühlstraße, die wegen ihrer Lage keinen Platz in der Tour gefunden hat, befinden sich die Zimmer nicht im Container oder Keller, sondern im Erdgeschoss. «Die Räume sind zu 98 Prozent übers Jahr belegt», informiert die Sozialarbeiterin Kornelia Wagner.
Ferner betreuen die Mitarbeiter 35 wohnungslose Männer mit sozialen Schwierigkeiten, die hier leben. Das dritte Standbein ist die traditionelle Armenspeisung. Auch hier habe «vor ein paar Jahren Hartz IV eingeschlagen», sagt die Sozialarbeiterin. In dieser Zeit sei die Zahl von anfangs 60 auf inzwischen 120 Personen gestiegen, am Monatsende strömen gar 150 hungrige Menschen hierher.
Der nächste Halt ist wenige Hausnummern entfernt vor der Stadtmission, die hier betreutes Wohnen mit 54 Plätzen und eine offene Beratung für Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen oder bedroht sind, anbietet. «Es führen viele Wege in die Wohnungslosigkeit», weiß Einrichtungsleiterin Heidi Ott,«es gibt nicht die typische Biografie.»
Im Fall von Bertram Sachs, einer von durchschnittlich 350 Ratsuchenden pro Jahr, sieht seine Geschichte so aus: Nach einer viermonatigen Haftstrafe hatte der gelernte Lagerist seine Wohnung und seinen Job verloren. Dank Vermittlung der Stadtmission konnte der Hartz-IV-Empfänger, nachdem er ein Jahr auf Platte war, wieder eine Wohnung beziehen. Auch das erzählt er auf der Führung, zu der übrigens die SPD-Landtagskandidaten Angelika Weikert und Jonas Lanig eingeladen hatten, um Einblicke in das Leben sozialer Randgruppen zu gewähren und, so Weikert, «diese in die politische Arbeit mitzunehmen». Weiter geht es zur Burg, wo der 50-Jährige an einen ehemaligen Treffpunkt für Sandler in den 70- und 80er Jahren erinnert, «an dem fast nie kontrolliert wurde», zur letzten Station: das Haus eckstein an der Burgstraße. Hier wird sonntags ein Obdachlosenfrühstück aufgetischt, das rund 300 Menschen nutzen. «So richtig mit Bedienung, damit die Leute das Gefühl haben, sie sind was wert», erzählt Sachs.
Zum Schluss gibt er den Zuhörern noch Nachdenkliches auf dem Weg und berichtet von Menschen, die bereits in der dritten Generation von staatlicher Hilfe leben und nicht mehr in der Lage seien, für sich selbst zu sorgen und zu kochen. Und von einem Obdachlosenfrühstück im Eckstein, bei dem eine Neunjährige mutterseelenallein am Tisch saß. Auf die Frage, wo denn ihre Eltern seien, erwiderte das Mädchen: «Die schlafen noch». Und wie sie hierher käme? «Ich habe Hunger.»
Claudia Beyer, Nürnberger Nachrichten vom 17.9.2008