15 Jahre Straßenkreuzer: Ein Besuch in der Schreibwerkstatt
Herzlichen Glückwunsch, Straßenkreuzer! Das Sozialmagazin wird 15 Jahre alt. Wir haben uns dort umgesehen, wo pro Ausgabe eine Doppelseite entsteht – in der Schreibwerkstatt.
In jedem schlummert ein Talent, man muss es nur wecken. Ilse Weiß, die rührige Chefredakteurin des Straßenkreuzers, hat das seit langem erkannt und motiviert die Teilnehmer der Schreibwerkstatt immer wieder zu geistigen Höhenflügen. Auch an diesem Donnerstagvormittag sitzen zehn Autoren gespannt um den großen Tisch in der Glockenhofstraße, ausgerüstet mit weißem Papier und Schreibstiften. Profi ist hier niemand, muss auch nicht. «Bei uns sind ganz unterschiedliche Leute dabei», sagt Weiß, «und das macht den Reiz unserer Werkstatt aus» (siehe Interview).
Tatsächlich treffen hier Jüngere und Ältere, Arme und Gutsituierte, sogenannte Normalos und Außenseiter aufeinander. «Geld und Beruf spielen keine Rolle, was zählt, ist die Lust am Formulieren», erzählt die Chefredakteurin. Und wenn es doch mal hakt, steht die erfahrene Journalistin mit Rat und Tat schnell zur Seite.
Viel müssen die Freizeit-Schreiber aber nicht mehr lernen. Das zeigt die Fingerübung zum Aufwärmen. Jeder wirft ein Wort in die Runde, aus den zehn Worten basteln alle ihre eigene kleine Geschichte: Texte, die sich sehen und hören lassen können. Jeder trägt seinen Beitrag vor, für die witzigen und einfallsreichen Anekdoten gibt es Applaus. Und an diesen sind die Autoren inzwischen gewöhnt.
Denn schon lange erscheinen die Ergebnisse der Sitzungen nicht mehr nur im Straßenkreuzer. Die Männer und Frauen präsentieren ihre Werke öffentlich, in Kirchen, im K 4 oder im Bildungszentrum. Ihre Auftritte werden mit Lob überschüttet; auch das Buch, das der Verein 2008 unter dem treffenden Titel «Eigengewächse» herausgegeben hat, kommt gut an.
Nicht alle haben mit dieser Resonanz gerechnet. «Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich Texte schreibe und sie auch noch einem großen Publikum vorlese», erzählt Straßenkreuzer-Verkäufer Carlo. Jetzt, nach vier Jahren, gehört er längst zum festen Stamm. Außerdem zeigt er seit Anfang 2009 als festangestellter Stadtführer Plätze, die in konventionellen Reiseführern nicht auftauchen: Einrichtungen wie die ökumenische Wärmestube, die Straßenambulanz oder die Notschlafstelle. Seinen Vortrag hält der ehemalige Werkzeugmacher frei, keine Frage: Das Reden fällt ihm leicht – dank Schreibwerkstatt, der vielen öffentlichen Auftritte und seiner sonoren Stimme.
Auch Siglinde hat in der Schreibwerkstatt viel dazu gelernt. «Als ich meine ersten Zeilen im Straßenkreuzer gedruckt sah, war ich richtig stolz», berichtet sie. Die 59-Jährige ist mit Menschen in Kontakt gekommen, die sie sonst wohl nie kennengelernt hätte. «Am Anfang hatte ich schon Berührungsängste», gibt sie zu. Auf staatliche Gelder oder Spenden war die Sekretärin, die nun auf 400 Euro-Basis Demenzkranke betreut, nie angewiesen. Jetzt aber weiß sie, dass es Menschen gibt, die oft nicht einmal wissen, wo sie die Nacht verbringen.
Jürgen ist so ein Fall. Dem 61-Jährigen ist es egal, ob er ein Bett hat oder nicht. Seit 2008 verkauft er in der Karstadt-Passage den Straßenkreuzer, in der Schreibwerkstatt macht er seit Februar mit. Der gebürtige Rheinländer – der sich selbst mit dem provokanten Satz «ich bin der Jürgen, ich bin Penner» vorstellt – hat (fast) alles gemacht und erreicht: er war Beamter, Gewerkschaftssekretär, Aushilfskellner und Lagerleiter in der freien Wirtschaft, mal bürgerlich, dann wieder auf der Straße.
Nach all den Höhen und Tiefen ist Jürgen gelassen, die Teilnahme in der Schreibwerkstatt ist für ihn eine willkommene Abwechslung. «Klar habe ich auch Lust am Schreiben», sagt er. Bei Schulbesuchen erzählt er Jugendlichen von sich und dem Straßenkreuzer und bei Veranstaltungen sitzt er schon mal neben OB Ulrich Maly oder der ehemaligen Familienministerin Renate Schmidt: «Es ist für mich das Größte in meiner Position, die ja eigentlich keine ist, diese Anerkennung zu bekommen».
Jürgen fühlt sich akzeptiert, ein paar Idioten, sagt er amüsiert, gibt es immer. In seinem Umfeld dürften es jedoch ganz wenige sein. Wieder einmal stellt ihm jemand eine Schlafstelle zur Verfügung, ein Taxifahrer, der bei Jürgen den Straßenkreuzer kauft. Bis Ende diesen Monats könne er bleiben. «Der Taxifahrer findet, ich müsse bei Kräften bleiben», erzählt er. Denn beim Straßenkreuzer-Jubiläum gibt Jürgen gleich mehrere Einlagen: als Schauspieler und Sänger. In jedem schlummert ein Talent – und bei Jürgen sind es sogar zwei.
Sharon Chaffin in der Nürnberger Zeitung am 16.7.2009