Auf mein Ehrenamt möchte ich nie mehr verzichten

Morgen muss Helga Rottkamp ins Krankenhaus, eine Augen-OP steht an. Ihren schwerkranken Ehemann hat die 70-Jährige bereits in die Klinik gebracht. Allein zu Hause kann er nicht bleiben. Die Nürnbergerin hätte also genug Gründe, sich an diesem Dienstagvormittag um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Das aber kommt für sie auf keinen Fall in Frage. Den Straßenkreuzer und seine Verkäufer lässt sie nicht im Stich, egal, was passiert. Seit knapp drei Jahren gehört der Dienstag im Zwei-Wochen-Rhythmus ihrem Ehrenamt; im vergangenen Jahr war sie sogar alle sieben Tage im Einsatz. Jetzt aber hat sie eine weitere Ehrenamtliche gefunden, mit der sie ihre Dienste abwechseln kann und die für sie unter Umständen auch einmal einspringt: „Das aber“, sagt Rottkamp, „kommt so gut wie nie vor.“

Das glaubt man ihr gern. Routiniert erledigt sie in dem kleinen Büro, das der gemeinnützige Verein Straßenkreuzer für den Vertrieb des gleichnamigen Sozialmagazins in der ökumenischen Wärmestube eingerichtet hat, ihre Arbeit: Öffnet Pakete und legt die Hefte schon abgezählt im Zehnerpack bereit. Lange muss die Helferin auf den ersten Kunden nicht warten.

Denn heute ist der erste Dienstag im Monat. Das neue Heft ist gerade erschienen. Die Verkäufer, die die Hefte für 90 Cent kaufen und für 1,80 Euro verkaufen, müssen sich mit der aktuellen Ausgabe noch eindecken. Der Titel im März lautet „Nur Mut“ – und Mut haben die armen und obdachlosen Menschen nötig, die sich mit dem Verkauf oft das Überleben sichern.

Um den Menschen eine neue Perspektive zu ermöglichen, braucht es in dem Verein Straßenkreuzer viele Ehrenamtliche: Autoren, Fotografen und Mitarbeiter im Vertrieb. Menschen wie Helga Rottkamp. „Ich finde das Projekt sehr gut und möchte, dass sich die Leute Geld dazu verdienen können, wenn sie zum Beispiel eine kleine Rente haben.“

Rottkamp kennt die Schicksale der Frauen und Männer, die höflich an die Tür klopfen und ihre Bestellung aufgeben. Einer der Verkäufer nimmt gleich mehrere Stöße, Rottkamp hilft ihm dabei, die erstandenen Hefte in Tüten und Taschen zu verstauen. Akkurat trägt sie die Anzahl der Magazine unter seinem Namen in eine Liste ein, danach nimmt sie das Geld entgegen. Natürlich ist die resolute Seniorin nicht nur eine reine Bürokraft, sondern hat immer auch ein offenes Ohr für die Nöte ihrer Kunden. „Diese Verkäuferin hat es nicht einfach“, sagt sie und erzählt, dass die Frau putzen geht – und zugleich den Straßenkreuzer verkauft, um ihre Familie über Wasser zu halten. „Manchmal gehen mir die Geschichten sehr nah“, berichtet Rottkamp; mit nach Hause aber nehme sie diese Sorgen eher selten. Das tue ihr nicht gut.

Außerdem ist Helga Rottkamp kein Kind von Traurigkeit, sondern sehr temperamentvoll. Für sie ist das Ehrenamt eine Selbstverständlichkeit; in ihrer Familie engagieren sich viele Mitglieder unentgeltlich. Auch für Helga Rottkamp ist der Straßenkreuzer nicht die erste freiwillige Station: 35 Jahre war sie im Sportverein Katzwang als Übungsleiterin tätig – damals arbeitete die gelernte Einzelhandelskauffrau noch als Steuergehilfin. Ihre eigene Erkrankung ließ sie dann 2004 die bundesweit erste Selbsthilfegruppe für Menschen mit einer Ersatzblase gründen sowie die Blasenkrebsgruppe am Klinikum Nord.

Zu viel oder gar zu anstrengend wird es der Rentnerin mit dem burschikosen Haarschnitt trotz alledem noch lange nicht. „Ich bin eben jemand, der gerne helfen möchte“, sagt sie von sich selbst. Und weil ihrer praktischen Art und ihrem Organisationstalent alles so schnell von der Hand geht, ist sie auch wenige Stunden vor ihrer OP noch ganz entspannt: „Warum soll ich nicht hier sein?“, fragt sie, „Kofferpacken kann ich auch noch heute Abend.“

Sharon Chaffin in der Nürnberger Zeitung, 10.3.2011

Glückliche Gewinner

Riesenandrang in der Galeria Kaufhof am Aufseßplatz am letzten Samstagnachmittag: Zwei Wochen hatten KundInnen Geschenke abgegeben – jetzt holten Sie ihr Wichtelgeschenk ab. Zehn prima-Sonntag-Leser haben 100-Euro- Einkaufsgutscheine gewonnen!

Es begann mit einem Lied: Jürgen Heiss trat auf, redegewandter Moderator und Strassenkreuzer-Verkäufer und sang vom Leben mit seinen Schattenseiten – wie er es kennengelernt hat.

Er war fünf Jahre obdachlos, gerade hat er wieder ein eigenenes Zimmer, eine Festanstellung (beim Straßenkreuzer), seine Nürnberg-Führungen finden immer mehr Freunde (Schicht-Wechsel, die etwas andere Stadtführung – Straßenkreuzer-Mitarbeiter zeigen Nürnberg aus der Perspektive von Armen und Obdachlosen. Termine vereinbaren Sie bitte direkt mit dem Stadtführer, Jürgen Heiß, unter der Telefonnummer: 0173 / 83 90 55 9). Dann durften etwa 100 Leser Wichtelgeschenke abholen. Galeria-Mitarbeiterinnen hatten sie bildschön in dunkelgrünes Weihnachtspapier verpackt. Bürgermeister Horst Förther begrüßte die Gäste – dann konnte man die Spannung mit Händen fassen: Wer würde wohl einen der zehn 100-Euro-Gutscheine gewinnen, die Galeria-Geschäftsführerin Yvonne Hohner ausgelobt hatte? Strahlende Gewinner können an Weihnachten sich oder anderen eine unerwartete Freude machen!

Dieser Samstag kannte nur Gewinner: Pro Wichtelgeschenk hat Yvonne Hohner noch einmal fünf Euro übrig – 500 kamen so insgesamt zusammen, für den Straßenkreuzer, das Nürnberger Sozialmagazin.

Chefin Ilse Weiß verriet, wofür sie gut sein werden: „Eines unserer wichtigsten Anliegen sind Festanstellungen für Straßenkreuzer-Verkäufer. Wir werden dieses Projekt damit unterstützen!

prima Sonntag, 18.12.2010

Ein Blick hinter die Fassade

Das Obdachlosenmagazin „Straßenkreuzer“ bietet in Nürnberg außergewöhnliche Stadtführungen an

Es hat geschneit wie schon lange nicht mehr, und es ist richtig kalt. Menschen drängen sich durch die Nürnberger Altstadt. Viele haben drei, vier Einkaufstüten in der Hand, andere sind auf dem Weg zum Christkindlesmarkt. Hektik, Trubel, aber auch Weihnachtsstimmung ist spürbar. Und mittendrin steht mit Kaffeebecher und Zigarette in der Hand Jürgen Heiß und schaut zu. Er ist Stadtführer, ein besonderer Stadtführer.

„Mittendrin und nach Westen“ heißt seine Tour – und sie führt an außergewöhnliche Orte. Orte, die in keinem Reiseführer zu finden sind. Bei dem rund zweistündigen Spaziergang des Projektes „Schicht-Wechsel“ werden Plätze und Häuser besucht, die eine besondere Geschichte haben oder in denen Obdachlose und sozial Benachteiligte ein Dach über dem Kopf finden.

Seit Juni 2008 gibt es diese etwas anderen, rund zweistündigen Stadtführungen. „Bislang haben weit über 4000 Menschen teilgenommen“, sagt Ilse Weiß, verantwortliche Redakteurin beim Sozialmagazin „Straßenkreuzer“, dem Initiator. Darunter viele Studenten. Regelmäßig kommen auch Polizeischüler aus Eichstätt. Zwei der Stadtführer konnten inzwischen fest angestellt werden. Jürgen Heiß ist der eine. Seit Februar hat der 62-Jährige den Job, im März konnte er nach fünf Jahren Obdachlosigkeit eine eigene Wohnung beziehen.

„Ich bin der Jürgen“, stellt sich Heiß zu Beginn der Tour vor. „Für mich ist das Du ein Zeichen des Respekts. Und den Respekt den ich euch gebe, möchte ich zurückbekommen.“ Sein Weg in die Obdachlosigkeit war keineswegs vorgezeichnet. Er hat eine Ausbildung zum Verwaltungsfachwirt, war zwölf Jahre bei der Bundeswehr. Er hat geheiratet und wurde Vater. Die Ehe ging nach zwei Jahren kaputt. Ein abgebrochenes Sozialpädagogik-Studium später hat er als Lagerist und Lagerleiter gearbeitet. „Ich habe gutes Geld verdient“, erzählt er. Mit 39 Jahren dann erlitt er einen Schlaganfall. „In der Zeit im Krankenhaus, als mich nur einer besuchen kam, und bei der Reha habe ich gemerkt, ich bin unwichtig.“ Jürgen verdiente sein Geld schließlich als Kellner in Festzelten – vom Bodensee bis nach Aschaffenburg. Dann arbeitete er wieder als Lagerist. Weil er immer wieder krank wurde, kam 2005 die Kündigung. „Wie die mich schließlich beim Arbeitsamt behandelt haben, hat mich so geärgert, dass ich beschlossen habe, ich brauche nichts vom Staat, ich will auch nichts vom Staat. Und da habe ich Platte gemacht.“ Sein Leben fand fortan auf der Straße statt.

Durch Zufall lernte der Schalke-04-Fan einen Verkäufer vom „Straßenkreuzer“ kennen und half aus. „Und da merkte ich, die Leute kommen zu mir, die wollen was von mir.“ Seit dieser Zeit ist er selbst als Verkäufer des Sozialmagazins unterwegs, dessen Auflage bei 17 000 liegt, das monatlich erscheint und von etwa 50 Verkäufern auf der Straße angeboten wird. Das Heft kostet 1,70 Euro, 90 Cent davon gehen an den Verkäufer.

Fünf Jahre lang lebte Jürgen als Obdachloser in Nürnberg, schlief im Burggraben, duschte sich in der Wärmestube. Durch seine Stadtführungen hat er wieder eine eigene Wohnung.

Auf diese müssen die Gäste des ersten Anlaufpunktes der Tour auch an bitterkalten Tagen verzichten. Das „Sleep-In“ ist Ansprechpartner und Notschlafstelle für jugendliche Obdachlose. „Wir haben hier neun übernachtungsplätze und zwei Notschlafbetten“, erzählt Sozialpädagoge Markus Kawaletz.

Im „Sleep-In“ geht es im Wesentlichen um die Sicherung der Grundbedürfnisse: Essen, Schlafen, Duschen und auch mal die Wäsche waschen. Zudem werden die 14- bis 21-jährigen Jugendlichen beraten. Etwa wie man ein Zimmer in einer Obdachlosenpension und damit eine Meldeadresse bekommt – denn nur so erhält man Hartz IV.

Im Schnitt liegt die Auslastung bei vier bis sechs Personen pro Nacht, im Sommer wie im Winter, „mehr Jungen als Mädchen“, so Kawaletz. „In der Regel können die Obdachlosen sechs Nächte pro Monat hier bleiben. Die meisten wollen gar nicht länger.“ Viele der jungen Erwachsenen haben sich bewusst für dieses Leben entschieden, haben lange Jugendhilfekarrieren hinter sich, waren im Heim oder in einer Pflegefamilie, bevor sie auf der Straße gelandet sind. „Die meisten scheitern im Alltag, können keine Termine einhalten oder erscheinen betrunken“, sagt er. „Bei uns können sie zur Ruhe kommen, hier sind weder Alkohol noch Drogen und auch keine Gewalt erlaubt.“

Die Zimmer sind spartanisch eingerichtet. Sofa, Sessel und ein Tisch im Wohnzimmer, abschließbare Schränke im Flur, Betten in den Schlafräumen. Und vergitterte Fenster. „Das mussten wir machen, weil die Jugendlichen immer wieder mal Sachen aus den Fenstern geworfen haben. Klamotten zum Beispiel, aber auch mal einen Becher Buttermilch. Das hat regelmäßig ärger gegeben“, erzählt Kawaletz.

Im vergangenen Winter sind in Deutschland 17 wohnungslose Männer erfroren, teilte die Bundesgemeinschaft Wohnungslosenhilfe kürzlich mit. Sie fordert mehr Hilfen für Menschen, die auf der Straße leben, vor allem in kleinen und mittleren Städten. Bundesweit gibt es etwa 250 000 Obdachlose. Rund 20 000 leben ganz auf der Straße. Wie ist die Situation in Nürnberg? „Die Dunkelziffer liegt bei 1200 bis 1800“, sagt Jürgen. „Aber hier gibt es ausreichend Hilfsangebote. Keiner muss auf der Straße schlafen, wenn er nicht will.“

Der nächste Stopp der Tour ist im Cafe des CVJM, des Christlichen Vereins Junger Menschen. Dorthin kann jeder kommen, und dort wird unter anderem Bildungsarbeit geleistet. „In Seminaren zum Beispiel lernen Jugendliche erst einmal die sogenannten Soft Skills als berufsvorbereitende Maßnahmen“, erzählt Michael Götz, leitender CVJM-Sekretär. Zu den Soft Skills, den sozialen Kompetenzen, gehören zum Beispiel Teamfähigkeit und Konfliktfähigkeit.

Ein paar Häuser weiter ist die Boutique Lilith, ein Secondhand-Laden für Damenmode, der Arbeitsplätze für ehemals drogenabhängige Frauen anbietet. „Viele die Probleme mit Drogen hatten, wollen beruflich wieder Fuß fassen. Für sie hat die Arbeit etwas Stabilisierendes“, sagt Lilith-Geschäftsführerin Daniela Dahm. „Und die Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt sind verheerend. Viele Frauen waren zehn Jahre aus dem Job oder haben keine Ausbildung.“ Ihnen wird hier eine Perspektive geboten.

Lilith ist ein gemeinnütziger Verein und Träger verschiedener Einrichtungen. Betreutes Wohnen und ein Frauencafe gehören ebenso dazu wie Beratung und ein Mutter-Kind-Angebot. Und eben Arbeitsprojekte wie die Boutique. „Vier Frauen lernen hier viel über Verkaufskonzepte, Dekoration, Textilkunde und Aufbereitung der Kleidung. Und sie entwickeln Selbstvertrauen“, erzählt Dahm. „Aber der Wiedereinstieg ist sehr schwer.“

Das Restaurant „Estragon“ ist die letzte Station dieser Stadtführung. Auch das „Estragon“ ist mehr als ein gewöhnliches Restaurant. Es wird von der Aids-Hilfe Nürnberg-Fürth-Erlangen betrieben und soll Schwerbehinderten, Langzeitarbeitslosen und HIV-Positiven einen Einstieg in einen Job verschaffen. Es ist ein ansprechendes Lokal mit interessanter Speisekarte – Schwerpunkt mediterrane Küche. „Und es läuft gut, die Bevölkerung nimmt das Restaurant an“, sagt Praktikant Sebastian Loreth. „Wir sind den ganzen Dezember ausgebucht.“ Das Projekt gibt es seit sechs Jahren, derzeit werden sechs Ausbildungsplätze angeboten. Das „Estragon“ ist eine Säule der Aids-Hilfe. Eine andere ist das betreute Einzelwohnen mit 24 Plätzen. Die dritte Säule ist das Beratungszentrum, das jedem offen steht.

Die Stadtführung gewährt Blicke hinter die Fassaden einer heilen Welt. Einer unbekannten Welt. Sie schafft Kontaktmöglichkeiten und hilft, Vorurteile abzubauen. Sie lässt die Teilnehmer die Stadt mit anderen Augen sehen.

„Das was ich an Sozialarbeit durch mein Studium machen wollte, mache ich eben jetzt“, sagt Jürgen. „Für mich war es immer o. k., auf der Straße und von Tag zu Tag zu leben. Ich bin ein humorvoller Mensch. Was allerdings wichtig war, war mein klar strukturierter Tagesablauf.“ In Obdachlosenunterkünften hat er nie übernachtet, das hohe Aggressionspotenzial und die mangelnde Hygiene haben ihn abgeschreckt. Ernsthaft krank war er während seiner fünf Jahre auf der Straße auch nicht. „Mit gutem Equipment passiert einem auch im tiefstenWinter nichts.“

Sandra Mönius, Donaukurier, 17.12.2010

Verschenken Sie eine Verkäufer-Patenschaft!

Wer einen Straßenkreuzer kauft, beschenkt immer gleich mehrere: sich selbst, weil er ein professionell gemachtes Heft ersteht, den jeweiligen Verkäufer, der eine Provision erhält und den gleichnamigen Verein, der das Sozialmagazin trägt. Es gibt aber noch eine weitere Möglichkeit, jemandem zu Weihnachten eine ganz besondere Freude zu machen – nämlich mit einer Straßenkreuzer-Patenschaft. Nur mit einem Festbetrag, der monatlich/viertel- bzw. halbjährlich oder auch als Einmal-Summe an den Verein überwiesen wird, lassen sich die Kosten für die angestellten Verkäufer langfristig sichern.

Anders als die etwa 45 Verkäufer, die zu ihrem Arbeitslosengeld II anrechnungsfrei 120 Euro netto zur Sozialleistung dazu verdienen, haben die angestellten Verkäufer ein monatliches Festgehalt sowie Anspruch auf Urlaub. Der Verein kommt zugleich für die Sozialversicherungsbeiträge auf. Ein Straßenkreuzer-Verkäufer kostet den Verein rund 475 Euro. Das ist keine Riesensumme, aber ein kleiner gemeinnütziger Verein wie der Straßenkreuzer ist dabei natürlich dringend auf Spenden und neue Paten- schaften angewiesen. Bislang unterstützen rund 20 Paten die Arbeit mit Spenden. Außerdem gibt es Freunde und Förderer, die den Verein mit Geldspenden unter die Arme greifen. Derzeit hat der Straßenkreuzer sechs angestellte Verkäufer sowie zwei Stadtführer. Ein weiterer Mitarbeiter ist im Vertrieb und für Büroarbeiten tätig.

Für Chefredakteurin Ilse Weiß ist diese Beschäftigungsform wichtig: „Es gibt den Menschen eine Perspektive; sie haben ein Gefühl von Sicherheit“. Man dürfe Arbeits- lose nicht immer nur von einem Ein-Euro-Job zum nächsten schicken. Die Männer und Frauen, die meist für den ersten Arbeitsmarkt nicht mehr geeignet sind, brauchen aber Verlässlichkeit – und die bekommen sie mit einer Festanstellung.

Im Gegenzug müssen die Frauen und Männer zuverlässig und präsent sein: „Sie vertreten den Verein und das Produkt“, sagt Weiß. Bisher hat es noch keine Probleme gegeben. Im Gegenteil. Man müsse auf die fest angestellten Verkäufer oft einreden, damit sie ihren Urlaub nehmen. „Sie sind stolz, dass sie endlich wieder arbeiten und nicht auf Sozialleistungen angewiesen sind“. Wer eine Patenschaft übernimmt, sichert die Arbeitsverträge.

Sharon Chaffin, Nürnberger Zeitung, 9.12.2010

Wo Arme eine Chance bekommen

Du freust dich sicher über den Schnee: Du kannst Schlittenfahren oder einen Schneemann bauen. Für Menschen, die keine Wohnung haben, ist dieses Wetter aber nicht schön: Sie müssen sich jede Nacht einen Platz in einer Notunterkunft sichern oder, wenn sie im Freien übernachten, sich warm anziehen, damit sie nicht erfrieren.

Jürgen Heiß zum Beispiel hat die klirrende Kälte mit Isomatte und dickem Schlafsack überlebt. Fünf Jahre verbrachte der heute 62-Jährige auf der Straße. Zuvor hatte er ein normales Leben geführt: mit Wohnung, Arbeit und allem, was dazu gehört. Dann folgten Krankheit und der soziale Abstieg: „Der Burggraben war mein Wohnzimmer und die Wöhrder Wiese mein Schlafzimmer“, sagt er und lacht.

Seit März ist das anders. Nun hat er wieder eine Wohnung: „Du fährst nach Hause und musst dir keine Gedanken machen, wie das Wetter wird“, erzählt er. Jetzt könne er seine Kleider in einen richtigen Schrank hängen, früher bewahrte er seine Siebensachen in einem großen Rucksack auf. Auch wenn er seine Zeit auf der Straße nicht bereut, schätzt er die Vorzüge einer Wohnung durchaus. Dass er den Sprung vom Obdachlosen (so nennt man Menschen ohne Wohnung) hin zur festen Bleibe geschafft hat, liegt zum großen Teil am Straßenkreuzer, einem Verein, der bedürftigen Menschen hilft – aber nur, wenn die Betroffenen selbst etwas leisten. Der Straßenkreuzer gibt nämlich als Verein ein gleichnamiges Magazin heraus. Anders aber als bei der Nürnberger Zeitung, wo die Mitarbeiter bezahlt werden, arbeiten beim Straßenkreuzer Autoren und Fotografen ehrenamtlich, das heißt, sie bekommen kein Geld. Die Zeitung kommt auch nicht per Post, sondern wird auf der Straße in Nürnberg, Fürth und Erlangen von armen Menschen verkauft. Dafür dürfen sie einen Teil der Einnahmen behalten.

Fast alle der rund 50 Verkäufer haben einen Stammplatz – und auch ihre Stammkunden. Jürgen Heiß steht meistens in der Karstadt-Passage. Wenn er einmal fehlt, seien seine Käufer schon immer ganz beunruhigt, erzählt er.

Das zeigt ihm: Er wird gebraucht.

Viele, die längere Zeit arbeitsoder sogar wohnungslos waren, haben dieses Gefühl lange nicht erlebt, berichtet Ilse Weiß, die den Straßenkreuzer als Chefredakteurin betreut. Daher sei die Verkäufer-Tätigkeit für sie wichtig: „Sie verdienen dabei Geld und haben wieder eine Aufgabe.“

Sharon Chaffin, Die kleine NZ, Nürnbergberger Zeitung, 3.12.2010