Begeisterten Menschen einen tierischen Spaß bereitet. Ilse Weiß stellte Autoren mit Lebens-Geschichten vor
„Schämen sollten sich wirklich nur solche Menschen, die andere nötigen, sich zu schämen.“ So brachte Inge Tusjak ihre Gedanken zum zentralen Monatsthema Scham zu Papier, mit dem sich die Schreibwerkstatt des Nürnberger Sozialmagazins „Straßenkreuzer“ befasst hatte. Nachdenklich stimmte damit die Redakteurin Ilse Weiß die Zuhörer in der „Kräuterapotheke“, wo sie zum zweiten Mal mit Autoren aus ihrem Team bei den Lesungen des Fränkischen Freilandmuseums zu Gast war. Da man sich wunderbar angenommen fühle, habe man sich über die neuerliche Einladung sehr gefreut und mit Spannung erwartet, ob man an den Erfolg des Vorjahres anknüpfen könne, auch wenn es einzelne thematische Wiederholungen geben sollte.
„Szenen-“ und langanhaltender Schlussapplaus sollte diese Frage ebenso klar beantworten wie Komplimente aus dem Zuhörerkreis, aus dem den Autoren „großer Respekt“ gezollt wurde. Und Ilse Weiß durfte Anerkennung für ein interessantes Projekt genießen, mit dem viele Menschen aufmerksam auf die zwar zum Stadtbild Nürnbergs gehörenden, aber oft nur im Vorbeihasten „wahrgenommenen“ Verkäufer des „Straßenkreuzers“ gemacht werden, Interesse für die Geschichten geweckt wird, die buchstäblich das Leben schreibt.
Wie etwa jene von Heiko Lenthe, bekennender „Franke mit Herzblut“, der nach langer Zeit in die Heimatstadt Nürnberg zurückkehrte und sich „derham“ wusste, als ihn beim bedächtigen Aussteigen aus dem Zug eine bar-
sche Stimme aufforderte: „Du Doldi, mach die Tür frei“. Oder jene von Jürgen Weiß, der fünf Jahre „Platte“ gemacht, also auf der Straße gelebt hatte, bei der morgendliche Toilette in einer der Sozialeinrichtungen eine Aftershaveprobe geschenkt bekommen hatte und sich später von zwei „aufgestylten“ Passantinnen die zynische Bemerkung anhören musste: „Den Straßenkreuzer verkaufen, aber nach Armani riechen“. Oder der in honoriger Runde Stadtoberhaupt Maly vorrechnete, was die Stadt im Jahr an seinen dringenden Bedürfnissen verdient, um bei einem anderen Empfang von der ehemaligen Bundesministerin Renate Schmidt lauthals als der Mann identifiziert zu werde, „der für 600 Euro pieselt“.
Während Heiko Lenthe aus seinen Geschichten las – darunter auch eine aus dem „Worte-Schreib-Spiel“, bei dem aus einzelnen Schlagworten aus der Runde in kurzer Zeit Texte formuliert werden – bevorzugte Weiß die Rolle des Erzählers, der das Herz auf der Zunge trägt, munter auch einen Dialog unter Zigaretten(marken) schildert und bei der Werbung für das Stadtführerprojekt erkennen lässt, wie vital dabei Nürnberg aus spezieller Perspektive erlebt werden kann.
Seine ganz eigene Ausdrucksweise mit dem schnell auf den Punkt gebrachten Inhalt eines Romanes hat Waldemar Graser vor zweieinhalb Jahren in den Haiku gefunden. Im Fünf-Sieben-Fünf-Silben-Rhythmus stehen Brech-Bohnen für die im Gemüse lauernde EHEC-Gefahr, wird dem Blauwal Abstinenz empfohlen, kommt der Meister der Würze in der Kürze vom Wal über die Walnuss zur Wal-purgisnacht oder macht sich seinen „Reim“ darauf, dass zunächst jeder Grashalm versorgt und dann „der Rasen gesprengt“ wird.
Ilse Weiß, sensibler Impulsgeber für den Mut, Gefühle zu Papier zu bringen, vertrat eine Autorin mit deren Beitrag zum Thema Scham, in dem sie als betrogene Frau der eigenen Seele auf den Grund geht. Eine Frau, die sich von dem erfahrenen Betrug zum Narren gehalten fühlt, „weil du nicht schlau genug warst, ihn zu durchschauen“; der dich „einer Erinnerung beraubt, die falsch ist“… „gemeinsam verbrachte Jahre überbracht werden müssen“.
So gestaltete sich die Lesung der „Straßenkreuzer-Autoren“ erneut so vielfältig wie das Leben und die von ihm geschriebenen Geschichten. Dass sich der Mensch – auch bei zweifellos einigen nachwirkenden Gedanken – über solches Erleben tierisch freuen kann, stimmte das Publikum gerne mit Jürgen Heiß überein, der über einen vermeintlichen Widerspruch philosophierte. Etwa wie in Lebenspartnerschaften mit der Zeit aus dem Häschen oder Mäuschen größere Tiere werden, mit einer alten Ziege oder einer Schlange durchaus die gleiche Person gemeint sein kann.
Ein tierisches Vergnügen sollte auch die von Martina Tischlinger beschriebene Begegnung einer Frau und einer Ente bereiten, bei der nach anfänglichen Kommunikationsproblemen gemeinsames Quaken zur menschlichen Erkenntnis führt: „Man muss nur miteinanderreden.“
Noch viel zu reden gab es bei der „Nachlese“, für die Ute Rauschenbach mit Stammgästen der Literaturreihe nach dem Schließen des bezirkseigenen Lokales eine neue Form entwickelte: Man kommt improvisiert in der Gaststube zusammen.
Harald J. Munzinger in der Fränkischen Landeszeitung, 1.7.2011