Die Diana-Stube öffnet

Wenn alles mit Möbeln und Technik klappt, dann öffnet am 19. Juli ein neuer Tagestreff für Wohnungslose an der Dianastraße. Nicht nur die Größe des Treffs ist mit Platz für rund 80 Personen bemerkenswert, auch das Konzept. Denn die Diana-Stube ist im Haus der Notübernachtung an der Dianastraße angesiedelt. Die Übernachtungsgäste müssen daher nicht, wie sonst üblich, oft schon morgens um sieben das Zimmer und das Haus verlassen und den Tag selbst bei Eis und Regen irgendwie rumkriegen, bis sie abends um sechs wieder kommen dürfen. In der Dianastraße steht ihnen nun tagsüber die Diana-Stube offen. Neben dem Aufenthaltsraum gibt es ein Beratungszimmer, das regelmäßig besetzt ist, Sanitäranlagen sowie einen Krankenraum, für dessen Betrieb tatsächlich eine Krankenschwester gefunden wurde. Ein Fernsehraum und Schließfächer für Wertsachen stehen ebenfalls zur Verfügung.
Manuela Bauer, Leiterin der Wärmestube (im Bild), hatte genau so einen Treff seit Jahren als Entlastung für ihr Haus an der Köhnstraße gefordert. Das war regelmäßig übervoll, Security musste in den Wintermonaten für ein sicheres Miteinander sorgen. Nun entzerrt sich das Angebot, Bauer und ihr Team sind sicher, effektiver und zielgerichteter beraten und unterstützen zu können.

Foto: Gerd Grimm
manuela bauer

Handfestes für die Niemands-Galerie

Die Dramaturgin Maren Zimmermann sammelt für eine Ausstellung Objekte und ihre Geschichte. Die Geschichten und weiteren Ergebnisse des letzten Jahres sind auf der beständig wachsenden Homepage www.niemand.bridgingarts.denachzulesen. Und am 17. Juli in zwei Werkschauen in der Tafelhalle zu sehen. Alltagsobjekte zur Ausstellung sind zudem bis 10. Juli in der Galerie Lukasch, Bucher Str. 93 in Nürnberg, zu sehen.
Die Schreibwerkstatt hat mitgemacht – was es mit der Rute und dem Teppichklopfer auf sich hat, lesen Sie auch in der Juli-Ausgabe unseres Magazins.

Foto: Ilse Weiß
MarenZimmermann

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Interview Kanzlerkandidaten

Ran an die Spitzenpolitik

Annette Bruhns, Chefredakteurin von Hinz&Kunzt aus Hamburg interviewte im Namen von 20 deutschen Straßenzeitungen jeden Monat Spitzenpolitiker*innen vor der Bundestagswahl. Die Interviews mit Linken-Chefin Susanne Hennig-Wellsow, Armin Laschet (CDU), Christian Linder (FDP), Robert Habeck (Bündnis 90 / Die Grünen) und Olaf Scholz (SPD) lesen Sie hier in voller Länge.

Was bringt der Mietendeckel, Frau Wissler?

Frau Wissler, als Spitzenkandidatin einer Partei, die für soziale Gerechtigkeit steht, dürften Sie gerade bei Straßenzeitungsverkäufer*innen Erwartungen wecken. Was würden Sie für obdachlose Menschen tun, wenn Sie in die Regierung kämen?
An erste Stelle müssen wir Wohnungen vermitteln. Wir setzen uns außerdem dafür ein, dass Menschen ohne Krankenversicherung medizinisch behandelt werden. Das hat für mich Priorität: Housing First und die medizinische Versorgung, und zwar jetzt. Denn durch die Coronakrise hat sich die Lage obdachloser Menschen noch zugespitzt.

Wenn das Wahlergebnis für Rot-Rot-Grün reicht, könnten Sie Vizekanzlerin werden. Doch die Linke legt die Latte für eine Regierungsbeteiligung hoch: Sie fordert eine Auflösung der Nato und ein Ende der Bundeswehr-Kampfeinsätze im Ausland. Weshalb sollten Menschen Sie wählen, fragt “Trott-war” aus Stuttgart, wenn sie sich nicht darauf verlassen können, dass Sie Verantwortung übernehmen würden?
Regieren ist kein Wert an sich. Wir wollen wirklich etwas durchsetzen. Wenn es Mehrheiten gibt für eine gerechtere Steuerpolitik, für Umverteilung, für bezahlbare Mieten und gut entlohnte Pflegekräfte, sind wir natürlich bereit, in eine Regierung einzutreten. Für ein “Weiter so” sind wir nicht zu haben.

Anders gefragt: Glauben Sie, dass potenzielle Wähler*innen Verständnis dafür haben, wenn Sie rote Linien für eine Regierungsbeteiligung ausgerechnet in der Außenpolitik ziehen?
Die Linke ist konsequent als Friedenspartei, aber die Auflösung der Nato ist keine Entscheidung, die eine deutsche Bundesregierung alleine treffen kann. Sie kann aber den Rüstungsetat senken, der seit 2014 um 35 Prozent gestiegen ist – sogar im Corona-Jahr noch um 8,4 Prozent! Wir sind gegen das Nato-Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung auszugeben. Statt in Waffen wollen wir in Soziales, in Bildung und Klimaschutz investieren. Sicher muss man Kompromisse eingehen, aber die müssen in die richtige Richtung gehen. Schwache gegeneinander auszuspielen, etwa das Asylrecht zu verschärfen, um dafür an anderer Stelle soziale Verbesserungen zu erreichen, geht für uns nicht. Wir brauchen internationale Solidarität mit Kriegsflüchtlingen, wie mir kürzlich bei einem Besuch im Geflüchtetenlager auf Lesbos wieder sehr bewusst wurde.

Linke Politiker – von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) bis zu US-Präsident Joe Biden – wollen eine globale Mindestbesteuerung für Konzerne einführen. Europas Steueroasen – Luxemburg, Irland – sträuben sich dagegen. Wie wichtig ist Ihnen dieses Ziel?
Sehr wichtig! Unterschiedliche Steuersätze und Steuerdumping sind ein riesiges Problem, denn dadurch können Konzerne Staaten gegeneinander so gegeneinander ausspielen, dass die öffentliche Hand am Ende immer verliert. Auch die Besteuerung von Vermögen muss harmonisiert werden. Sie ist in den USA übrigens deutlich höher als hier.

Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow hat gerade die Partei ermahnt, nicht nur über eine Vermögenssteuer zu reden, sondern sich für diejenigen einzusetzen, die durch die Coronakrise zu verarmen drohen. Hat er Recht?
Wir weisen immer wieder auf die Situation hin, dass einige wenige durch die Pandemie reicher geworden sind, und sehr viele ärmer. Viele wissen nicht, wie sie die Miete nach Monaten in Kurzarbeit noch bezahlen sollen, Menschen in der Gastronomie, Minijobber, die ihre Jobs verloren haben, Selbständige ohne Perspektive. Die Lufthansa hat neun Milliarden Euro bekommen, auch für die TUI gab es Milliardenhilfen – bei den Solo-Selbständigen gab es dagegen absurde bürokratische Begründungen, wegen derer man ihnen angeblich nicht helfen kann.

Was ist mit den Arbeitsmigrant:innen, von denen nicht wenige auf unseren Straßen stranden: Unter welchen Bedingungen sollten ausländische EU-Bürger:innen in den Genuss des von der Linken visionierten Sozialstaats kommen, der jeder und jedem eine Mindestsicherung von 1200 Euro bietet?
Die Situation osteuropäischer Arbeitsmigrant:innen ist vielerorts dramatisch. Wir fordern, dass es Boardinghäuser mit Einzelzimmern geben muss zur Unterbringung von Saisonkräften, und natürlich: soziale Absicherung und Schutz. Viele arbeiten ohne Krankenversicherung. Das ist Wahnsinn. Erntehelfer:innen dürfen in Normalzeiten 70 Tage ohne Sozialversicherung arbeiten, das hat die Bundesregierung – unter Verweis auf die Coronakrise – auf mehr als 100 Tage ausgeweitet. Dabei ist es gerade in einer Pandemie und bei harter körperlicher Arbeit mit hohem Verletzungsrisiko nicht hinnehmbar, ohne Krankenversicherung zu arbeiten. Gewerkschafter von der IG BAU berichten von Menschen, die hier wochenlang arbeiten, und dann wegen einer medizinischen Behandlung verschuldet nach Hause fahren. Hier in Wiesbaden haben rumänische Bauarbeiter für 1,02 Euro pro Stunde gearbeitet. In Hessen, nicht in Katar! Und oft zahlen Saisonkräfte und Wanderarbeiter:innen  für ein Bett im Sechsbettzimmer den gleichen Quadratmeterpreis wie in einem Penthouse in Berlin-Friedrichshain, was ihnen vom Lohn abgezogen wird. Das ist Ausbeutung pur.

Was muss passieren?
Wer hier arbeitet, muss ab dem ersten Tag sozialversichert sein. Das ist auch wichtig für die Rentenansprüche, sowie dafür, dass das allgemeine Lohnniveau nicht sinkt.

Um dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum zu begegnen, würden Sie Immobilienkonzerne sogar enteignen. Was würde das bringen?
Wir unterstützen das Berliner Volksbegehren “Deutsche Wohnen, Vonovia & Co enteignen”. Es geht uns nicht um gemeinnützige Wohnungsgesellschaften, auch nicht um private Eigentümer, sondern um riesige, börsennotierte Immobilienkonzerne. Wohnungen sind nicht dafür da, Rendite zu erzielen. Vonovia hat im letzten Jahr 2.045 Euro pro Wohnung an seine Aktionäre ausgeschüttet, das heißt, dass jeder Vonovia-Mieter zahlt rein rechnerisch jeden Monat 170 Euro an die Aktionäre. Diese Konzerne vernichten eher Wohnraum als dass sie neuen schaffen: Sie kaufen Wohnungen auf, sanieren sie teilweise und vermieten sie teurer weiter. Die öffentliche Hand muss wieder mehr Einfluss auf Wohnungen bekommen.

Wieso glauben Sie, dass deutsche Kommunen gute Vermieter wären? In Berlin hat sich die Verwaltung schon bei Großunterkünften für Geflüchtete so über den Tisch ziehen lassen wie das Bundesgesundheitsministerium bei Masken.
Das stimmt leider! Kommunale Wohnungsgesellschaften sind vielerorts Teil des Problems und nicht der Lösung, weil sie selbst hochpreisig bauen. Aber immerhin haben sie eine Satzung und den Auftrag, für das Gemeinwohl zu handeln. Bei der Aktiengesellschaft ist das nicht der Fall, die müssen Rendite abwerfen für die Investoren – im Gegensatz zur kommunalen Wohnungsgesellschaft, die anders agieren könnten.

Es sei denn, die Stadt will Profite abschöpfen …
… kommunale Wohnungsgesellschaften sollten kein Geld an den städtischen Haushalt abführen müssen, sondern bezahlbare Wohnungen schaffen.

Sie würden Berlins gescheiterten Mietendeckel gern in ganz Deutschland einführen. In der Hauptstadt sind zuletzt weniger Neuvermietungen zustande gekommen als zuvor; Wohnungsbauprojekte liegen auf Eis. Könnte ein Mietenstopp in Ballungszentren womöglich zu weniger statt zu mehr Wohnraum führen?
Das glaube ich nicht. Als Mittel gegen Wohnungsknappheit wird immer “Bauen, Bauen, Bauen” angepriesen. Nur kann das nicht funktionieren, wenn wir ständig bezahlbare Wohnungen verlieren; es ist auch klimapolitisch nicht klug. Fakt ist: Alle zwölf Minuten fällt eine Sozialwohnung aus der Sozialbindung. Diese Wohnungen sind ja nicht weg, sondern werden so teuer, dass man sie sich nicht mehr leisten kann. Wir müssen also etwas tun im Gebäudebestand! Da ist zum Beispiel die Rentnerin, die seit 40 Jahren in der Familien-Fünfzimmerwohnung wohnt, und jetzt alleine lebt. Sie hätte gern eine barrierefreie Zweizimmerwohnung, kann sie sich aber nicht leisten, weil ihre Miete sich verdreifachen würde. Wieso ermöglichen wir ihr keinen Wohnungstausch mit dem jungen Paar, das das zweite Kind erwartet?

Und was bringt da der Mietendeckel?
Er ist ein Instrument, um eine Verschnaufpause auf dem überhitzten Markt zu gewinnen; Berlin hat ihn als “Akt der Notwehr” bezeichnet. Nur darf so einen Deckel laut Bundesverfassungsgericht eben nur der Bund verhängen. Dass in Berlin wenig gebaut worden ist, lag nicht am Mietendeckel, der galt ja gar nicht für Neubau, sondern unter anderem an der Steigerung der Bodenpreise durch Spekulation.

Ihre Partei will auch die Grundstückspreise deckeln. Würde das nicht Schadenersatzforderungen der Eigentümer nach sich ziehen?
Nicht, wenn der Staat Bodenspekulationsgewinne besteuert.

Ihre Partei will sogar vor den Grünen Deutschlands CO2-Neutralität erreichen, nämlich 2035, Sie fordern eine “Energierevolution”. Also: dicke Pullis statt Heizen?
Wir werden das 1,5-Grad-Klimaziel verfehlen ohne ein Umsteuern. Selbst wenn alle beschlossenen CO2-Einsparziele umgesetzt würden, kämen wir laut neusten Berechnungen auf eine Erwärmung von 2,4 Grad. Deutschland muss Bahnland werden, mit einem attraktiven, günstigen ÖPNV, auch im ländlichen Raum. Nach der Coronakrise soll niemand mehr von Frankfurt nach Stuttgart fliegen! Auch die Liberalisierung der Logistik treibt irre Blüten. Wir brauchen keinen Wettbewerb bei Paketdiensten mit der Folge, dass mehrere Zusteller in dieselbe Straße fahren. Wir brauchen ein anderes Wirtschaften und einen sozialen Ausgleich. Die Kosten für den Klimaschutz dürfen nicht denen aufgebürdet werden, die ohnehin wenig haben, sondern den Verursachern. Ein sozial-ökologischer Umbau kann die Lebensqualität steigern, und führt eben nicht zu dem, was Sie an die Wand malen: dass wir frieren müssen.

Der Grüne Anton Hofreiter ist dafür verhöhnt worden, dass er gesagt hat, dass Einfamilienhäuser pro Kopf mehr Energie verbrauchen als Mehrfamilienhäuser. Auch alte, unsanierte Wohnungen sind für den Klimaschutz Gift, dafür aber billig. Wie wollen Sie die soziale Frage mit der ökologischen versöhnen?
Die energetische Sanierung muss vorangehen, aber über Förderprogramme statt über Mietsteigerungen. Klimaschutz darf nicht zu Lasten derer gehen, deren CO2-Fußabdruck am geringsten ist, weil sie am wenigsten haben. Sonst zahlen Leute für eine Party, auf der sie gar nicht waren.

Und wie würden Sie die mit dem größeren Fußabdruck zum Verzicht bewegen: mit Verboten?
Die Frage ist, was man als erstes macht: Verbietet man erst den Autoverkehr in der Innenstadt oder macht man Bus und Bahn attraktiver und schafft damit Alternativen? Wenn die Menschen bequem zum Nulltarif in die City fahren können, mit Bahnhöfen, die so gepflegt sind wie Flughäfen, kann man Städte autofrei machen. Dann geht es nicht um Verzicht, sondern um einen Gewinn an Lebensqualität. Die Städte stehen voll mit parkenden Autos. Was würden wir an Platz gewinnen, für Grünanlagen, für Ateliers, aber auch für Wohnungen, denken Sie nur an die Parkhäuser. Pendler stünden nicht im Stau, und die Luft wäre viel besser.

Bei der letzten Bundestagswahl verlor Ihre Partei 400.000 Zweitstimmen gegenüber 2013 an die AfD. In Sachsen-Anhalt hat sich dieser Trend jetzt fortgesetzt. Wie wollen Sie diese Wähler*innen zurückgewinnen, fragt “Drobs” aus Dresden?
Die AfD ist überall da stark, wo sie ihre Themen auf die Agenda setzen konnten – dort, wo die Unionsparteien rechte Themen besetzen. Wir als Linke müssen deutlich machen, dass wir in Opposition stehen zu den herrschenden Verhältnissen: zur sozialen Ungerechtigkeit, zur ungleichen Verteilung von Reichtum. Die AfD ist eine zutiefst rassistische Partei, die keine Antworten auf diese Probleme hat.

Viele Politiker*innen sind von Rechtsradikalen angegriffen worden, vor zwei Jahren ist der Kassler Regierungspräsident Walter Lübcke sogar ermordet worden. Sie haben anonyme Drohbriefe von einem “NSU 2.0” erhalten. Was muss passieren?
Die Gefahr von Rechts betrifft alltäglich vor allem nicht prominente Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Religionszugehörigkeit oder schlicht ihres Namens angefeindet werden. Auch wenn im Fall NSU 2.0 ein Verdächtiger festgenommen worden ist: Wir wissen noch nicht, ob der Mann zu einem Netzwerk gehört hat. Nach den Attentaten in Kassel oder Hanau gab es einen öffentlichen Aufschrei, die Innenminister rüsten verbal auf – aber an die Strukturen dahinter geht niemand. Reflexhaft ist die Rede von “Einzeltaten”, von “Einzeltätern”. Dabei muss man die rechte Szene entwaffnen, Haftbefehle auch vollstrecken, die Zivilgesellschaft stärken.

Was machen Sie, wenn Ihre Partei nicht die Fünfprozenthürde schafft?
Wir schaffen sie! Wir sind die Partei des Straßenwahlkampfes, der Kundgebungen – all das fehlte uns während der Pandemie. Aber wir kämpfen um Direktmandate und stehen in den Umfragen bei sechs bis acht Prozent: Wir kommen wieder in den Bundestag.

 

Bleibt das Münzgeld erhalten, Herr Laschet?

Herr Laschet, die Zahl der Obdachlosen wächst exponentiell: Sie hat sich in Hamburg genauso verdoppelt wie im kleinen Rain am Lech. Nehmen Sie diese Verelendung wahr?
Ja, das ist ein Problem, an dem Politik arbeiten muss. Ich selbst bin seit Jahren mit einer Wohungslosen-Initiative in Aachen verbunden, Café Plattform. Da merkt man, dass es nicht nur um die Frage geht, ob eine Wohnung da ist oder nicht, sondern um sehr individuelle Lebensgeschichten. Wir brauchen mehr als nur ein Wohnungsbauprogramm, um Menschen da herauszuhelfen.

Die Verelendung ist auch ein Ergebnis von Armutszuwanderung: mehr als zwei Drittel der Betroffenen haben einen EU-Pass – aber keinen deutschen. Sie haben 2014 gesagt, die EU sei keine “Sozialunion”; der Staat solle Arbeitsmigrant*innen nicht dieselben Sozialleistungen bieten wie Deutschen. “DrOBs” aus Dresden wirft Ihnen vor, dass Ihr Ansatz das Problem noch verschärft habe …

… ich habe nur das europäische Recht erläutert. Für soziale Leistungen ist zunächst der Mitgliedsstaat zuständig, aus dem jemand stammt. Man kann zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland kommen, aber man kann nicht einwandern und sofort Leistungen in Anspruch nehmen. Das ist nicht das Konzept der Europäischen Union.

Aber was soll dann geschehen, damit Wanderarbeiter*innen nach Einsätzen in der Landwirtschaft oder auf Baustellen, die zu keinen Sozialleistungen berechtigen, nicht auf der Straße landen?
Die Obdachlosigkeit nimmt nicht nur durch Zuwanderung aus Mittel- und Osteuropa zu …
… sagen wir es so: Die wenigen Zahlen, die wir haben, legen nahe, dass Zuwanderung entscheidend dazu beiträgt. In Hamburg waren 2009 mehr als 70 Prozent aller Obdachlosen deutsch. Bei der letzten Zählung, 2018, hatte sich die Zahl der Betroffenen fast verdoppelt – und zwei Drittel waren Nicht-Deutsche.
Der Ausweg kann nicht sein, dass jeder, der innerhalb der Europäischen Union einreist, automatisch Anspruch auf Leistungen hat. Das würde das deutsche Sozialsystem überfordern.

Welche Lösungen schlagen Sie vor?
Dortmund hatte das Problem massiv: mit vielen Menschen, die in illegale, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse vermittelt worden waren. Sie wurden teilweise in Schrottimmobilien untergebracht, manchen wurden Kreditkarten und Pässe abgenommen. Kurz: Es gab ein kriminelles Umfeld, das eine große soziale Frage zur Folge hatte. Dortmund hat reagiert, indem die Stadt die Schrottimmobilien still gelegt und legale Arbeitsmöglichkeiten geschaffen hat. Tariflohn, Mindestlohn, Arbeitslosenversicherung – all das, was unser Land an Sozialabsicherung vorsieht, muss natürlich auch für legal Beschäftigte aus Südosteuropa gelten.

In Europa gelingt es offenbar nur Finnland, Obdachlosigkeit zu verringern: durch “Housing First”, die bedingungslose Vermittlung von Wohnraum. Ihr Sozialminister Karl-Josef Laumann hat ein Modellprojekt in Nordrhein-Westfalen zuletzt als “vollen Erfolg” bezeichnet. Würden Sie als Kanzler Housing First in ganz Deutschland einführen?
Das entscheiden die Länder, der Bund kann nur Impulse setzen. Jedes Land muss auf die Situation vor Ort eine Antwort finden. Die ist im Ruhrgebiet im Zweifel anders als in Köln, auf dem Land anders als in Städten. Housing First ist in Nordrhein-Westfalen ein Modellprojekt. Wenn es gut funktioniert, und den Eindruck habe ich, kann es natürlich eine Blaupause sein für andere in Deutschland.

In vielen Städten werden Obdachlose durch Ordnungsdienste brutal vertrieben. Grundlage sind Straßensatzungen, die „aggressives Betteln“, „Lagern“ und „störenden Alkoholgenuss“ verbieten. Was halten Sie als ehemaliger Integrationsminister von soviel Intoleranz?
Da geht es um schwierige Abwägungen zwischen der öffentlichen Ordnung und der Möglichkeit, sich irgendwo aufzuhalten und sein Leben zu leben. Ich würde mir einerseits eine tolerante Handhabung der Gesetzeslage wünschen, vor allem aber, immer den Menschen im Blick zu behalten, um den es da geht.

Apropos Betteln: Die Finanzexpertin der CDU, Antje Tillmann, hält mindestens die kleinen Münzen für überflüssig. Geben Sie uns hier und heute eine Garantie, dass mit Ihnen das Münzgeld erhalten bleibt?
Ja! Soweit ich das kann, und das nicht die Europäische Zentralbank entscheidet. Ich finde selbst eine Ein-Cent-Münze zeitgemäß. Bargeld ist ein Freiheitsrecht.

Das Verfassungsgericht hat gerade Berlins Mietendeckel gekippt: Für das Mietpreisrecht sei der Bund zuständig. Mit welchem Konzept gegen überteuerte Mieten ziehen Sie in den Wahlkampf?
Die Erfahrung aus gut 70 Jahren Bundesrepublik lehrt: Staatlich geplanter und kontrollierter Wohnungsbau führt nicht zu mehr bezahlbarem, menschenwürdigem Wohnraum. Was wir brauchen, ist aus Landes- und Bundesmitteln geförderter Sozialwohnungsbau und dazu Anreize für mehr Wohnungsbau, besonders in überhitzten Gebieten wie Berlin. Der Mietendeckel hat das Gegenteil bewirkt. Es wurde noch nie so wenig in Berlin gebaut wie jetzt. Er war das falsche Mittel für das richtige Ziel: Auch in Metropolen muss für jeden eine Wohnung bezahlbar sein; Menschen sollten nicht aufs Land ziehen müssen.

Was wären das für Anreize? Steuererleichterungen für Vermieter?
Die bräuchte es nicht. Sobald man Flächen ausweist, wo gebaut werden kann, wird auch gebaut. Wohnungsbau ist attraktiv als Anlageobjekt, nur muss man Regeln haben gegen überhöhte Mietkostensteigerungen.

Eine Frage von “asphalt” aus Hannover: Angenommen ich hangle mich von einem befristeten Arbeitsvertrag zum nächsten, wohne zur Miete und mache mir Sorgen um die Zukunft, auch wegen des Klimawandels. Weshalb sollte ich die CDU wählen?
Um zu mehr wirtschaftlichem Wachstum und damit zu mehr Arbeitsplätzen zu kommen! Vor der Pandemie haben wir ohne Steuererhöhungen mehr Steuereinnahmen gehabt – weil die Wirtschaft gewachsen ist. Dies wieder herzustellen, wird wegen des Klimawandels zur doppelten Herausforderung. Wir wollen bis zur Mitte des Jahrhunderts mit marktwirtschaftlichen Anreizen Deutschlands Klimaneutralität hinbekommen. Die CO2-Besteuerung – also dem klimaschädlichen CO2 einen höheren Preis zu geben – wird zu Innovationen führen, die wiederum für neue Arbeitsplätze sorgen. Und: Die CDU kümmert sich nicht nur um guten Klimaschutz, sondern auch um die soziale Frage.

Mehr Einfamilienhäuser bedeuten pro Person deutlich mehr CO2-Ausstoß als andere Wohnformen – trotzdem fördert die Union diesen Traum. Ist das nicht rückwärtsgewandt?
Ich glaube, dass es gut ist, wenn Menschen auch mit kleineren oder mittleren Einkommen die Chance haben, Eigentum zu erwerben. Das Baukindergeld soll dies kinderreichen Familien erleichtern und damit zugleich zur Altersvorsorge beitragen. Welche Flächen in einer dicht bebauten Stadt dafür infrage kommen, muss natürlich die Kommune entscheiden. Aber generell gegen Einfamilienhäuser anzutreten, weil sie CO2-schädlich seien, ist nicht die Politik der CDU.

Armutsforscher wie Christoph Butterwege halten das Baukindergeld aber auch aus sozialen Gründen für eine fehlgeleitete Subvention: Es helfe nicht den Familien, die in Ballungsgebieten keine Wohnung finden. 
Das ist ja auch gar nicht die Absicht! Es ist für die Familien gedacht, die theoretisch die Chance hätten, Eigentum zu erwerben, aber nicht zu den Großverdienern gehören. Es ist aber kein Mittel, um Wohnungsnot in einer Großstadt zu lindern.

Eine Kanzlerin Baerbock würde die Steuern und Abgaben für Vermögende erhöhen, um das Geld umzuverteilen. Gehen Sie da mit?
Jetzt geht es doch um die Frage, wie kann und wird es uns gelingen, die Folgen der Pandemie zu bewältigen, wie bringen wir Menschen aus Kurzarbeit, wie erhalten wir Arbeitsplätze erhalten und schaffen neue. Das gelingt sicher nicht mit Steuererhöhungen.  Das Problem einer Vermögenssteuer ist doch, dass sie besonders den Mittelstand trifft. Also die vielen Familienunternehmen, die Arbeitsplätze schaffen und erhalten. Das wäre jetzt die falsche Antwort gerade auch für die vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in diesen Betrieben arbeiten.

Die Grünen wollen das Ehegattensplitting abschaffen, das nach wie vor die Alleinverdiener-Ehe fördert. Warum sollte die Republik an diesem Steuermodell festhalten?
Erstens entscheiden Ehepaare selbst, wie sie die Familienarbeit aufteilen. Zweitens würde, wenn Sie das so pauschal abschaffen, eine ganze Generation der heute Älteren nachträglich bestraft werden. Deshalb finde ich die Weiterentwicklung des Ehegattensplittings zu einem Familiensplitting gerechter.

Und was bedeutet das für Alleinerziehende?
Ein Familiensplitting würde die Kinder unabhängig vom Status der Eltern steuerlich berücksichtigen. Für Alleinerziehende ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf besonders wichtig. Eine gute Kinderbetreuung ist für sie existenziell, und zwar nicht nur von Ein- bis Sechsjährigen, sondern auch für Grundschulkinder. Wir wollen möglichst bis zum Sommer den Anspruch auf Grundschulkinderbetreuung rechtlich verankern.

Laut Ihrer Partei soll gute Bildung Hartz-IV-Karrieren verhindern. Als Kanzler könnten Sie den Ländern freilich wenig vorschreiben, den Ministerpräsident fragen wir, was bisher falsch gelaufen ist: Woher kommt die große Bildungsungleichheit in Deutschland?
Das ist ein Thema, das mich seit vielen Jahren umtreibt. Ich habe dazu ein Buch geschrieben, “Die Aufsteigerrepublik”. Die eigentliche soziale Frage lautet: Aufstieg unabhängig von der Herkunft der Eltern zu ermöglichen. Das betrifft viele Kinder mit einer Einwanderungsbiografie, wenn die Eltern nicht gut Deutsch sprechen. Aber auch in deutschen Familien mangelt es teilweise an guten Sprachkenntnissen. Deshalb brauchen wir frühkindliche Sprachförderung, Ganztagsangebote – und durchlässige Schulen, die etwa den Wechsel von der Realschule zum Gymnasium jederzeit ermöglichen. Ich kenne viele Karrieren, gerade aus Einwandererfamilien, die in der Hauptschule begonnen und zum Abitur geführt haben. Der Anteil an Abiturientinnen und Abiturienten mit Zuwanderungsgeschichte steigt von Jahr zu Jahr.

In der Pandemie wurden Laptops an Schüler in einem Land verteilt, in dem es vielerorts noch an der Mobilfunkversorgung hapert. Wieso rangiert das Merkel-Deutschland in Sachen Netzausbau noch hinter Albanien?
Wir sind da nicht gut genug. In Nordrhein-Westfalen haben wir jetzt Verträge mit den großen Telekommunikationsunternehmen gemacht, um den Ausbau zu beschleunigen.

Ihre Corona-Politik wirkte im Gegensatz zu der ihres bayerischen Amtskollegen Markus Söder schlingernd …
… wieso ist es schlingernd zu sagen, Kinder und Jugendliche sollen wieder in die Kita und Schulen, wenn die Infektionszahlen sinken? Das war der große Streit des Jahres 2020. Für ein Kind, das mit Geschwistern in einer Zwei- oder Drei-Zimmer-Wohnung lebt, ist der Präsenzunterricht die Chance, um den Aufstieg zu schaffen. Wir werden uns nach der Pandemie intensiv um die Kinder kümmern müssen, gerade um diejenigen aus schwierigen sozialen Verhältnissen, damit kein Kind aufgrund der Pandemie zurückbleibt. Meine Haltung war klar: Neben den Inzidenzzahlen müssen auch die Schäden in den Blick genommen werden, die Schulschließungen anrichten. Dieses Jahr hatten wir eine Phase mit explodierenden Infektionszahlen, mit der britischen Mutante sogar mit höheren Ansteckungsraten bei Kindern. Da muss man eine andere Antwort geben als im Jahr zuvor.

Der umstrittene Ex-Verfassungsschef Hans-Georg Maaßen hat auf Twitter schon Corona mit Grippe verglichen. Was bedeutet seine Bundestagskandidatur für Ihre Kanzlerkandidatur?
Gar nichts. Corona ist gefährlich. Tausende Menschen haben ihr Leben verloren wegen dieser Pandemie. Punkt. Ansonsten gehe ich davon aus, dass Herr Maaßen seinen Beitrag für den Erfolg der Union leisten wird. Wir werden mit der AfD weder reden, noch kooperieren, diese Regeln gelten auch für Herrn Maaßen. Das weiß er auch. Im Übrigen hat der Bundesparteivorsitzende keinen Einfluss auf die Wahl der Kandidaten in den 299 Wahlkreisen.

Ihr Konkurrent Olaf Scholz hat uns auf die Frage, was aus ihm würde, wenn er nicht siegt, geantwortet: “Ich werde Kanzler.” Wie ist das bei Ihnen, würden Sie auch nach Berlin gehen, um die Opposition anzuführen?
Das ist doch mal eine originelle Antwort. Ich werde Kanzler.

 

Soll der Freibetrag beim Zuverdienst angehoben werden, Herr Lindner?

Hinz&Kunzt: Herr Lindner, Sie besitzen einen Porsche, eine Rennfahrerlizenz und einen Jagdschein, sind also ein gemachter Mann. Wir 20 Straßenzeitungen glauben, dass Sie trotzdem etwas mit obdachlosen Menschen gemein haben. Raten Sie mal, was.
Christian Lindner: Das Wort „gemachter Mann“ finde ich rätselhaft, denn es klingt für mich nach dem Zutun von anderen. Tatsächlich bestreite ich seit meinem 18. Geburtstag meinen Lebensunterhalt selbst, geschenkt hat mir niemand etwas.

Wir dachten an Folgendes: Viele wohnungslose Menschen beziehen staatliche Grundsicherung, Sie leben seit Ihrem 22. Lebensjahr von staatlichen Diäten. Allerdings reichen die Ihnen nicht: Sie haben allein in dieser Legislaturperiode mehr als 400.000 Euro dazu verdient. Wohlfahrtsverbände finden den Hartz-IV-Regelsatz auch zu niedrig und fordern eine Aufstockung auf 600 Euro. Gehen Sie da mit?
Mir können Sie solche zugespitzten Fragen gerne stellen. Aber auch eine Polizistin oder ein Krankenpfleger beziehen ihre Gehälter aus öffentlichen Mitteln. Es führt nicht weiter, wenn jede Tätigkeit, die sich aus Steuergeldern finanziert, mit Sozialleistungen verglichen wird. In der Sache bin ich dafür, dass sich die Höhe der Grundsicherung daran orientiert, welche Bedürfnisse bestehen und wie die Preise sich entwickeln. Das sollten Fachleute festlegen, das ist nichts für Wahlkampfversprechen. Viel wichtiger ist es mir, den Menschen zu erleichtert, sich durch eigenen Einsatz, Schritt für Schritt, aus einer Bedürftigkeit herauszuarbeiten. Ganz konkret halte ich die Hinzuverdienstgrenzen beim Arbeitslosengeld II für skandalös ungerecht.

Das wird die Straßenzeitungsverkäufer freuen, die Hartz IV beziehen. Wie stehen Sie zur Forderung, den Freibetrag beim Zuverdienst von jetzt 100 Euro auf 400 Euro anzuheben?
Genau das ist unsere Forderung. Jeder, der einen Euro hinzuverdient, muss mehr als die Hälfte davon behalten können. Übrigens muss auch die Höhe des Minijobs angepasst werden. Denn wenn der Mindestlohn steigt, haben viele Betroffene dennoch nicht mehr Geld, wenn es bei 450 Euro bleibt. Die müssen stattdessen die Arbeitszeit reduzieren, das bremst Aufstiegschancen. Deshalb sollte die Höhe des Minijobs immer das 60fache des jeweiligen Mindeststundenlohns betragen.

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz und der Grüne Robert Habeck fordern höhere Steuern für Gutverdiener. Wären Sie bereit, mehr abzugeben?
Zu glauben, es habe nur positive Folgen, wenn man Steuern erhöht, weil dann der Staat über mehr Geld verfügt, greift zu kurz. Es muss immer alles erst erwirtschaftet werden, bevor es verteilt werden kann. Die Aufgabe lautet doch, mehr gut bezahlte Arbeitsplätze zu schaffen und in neue Technologien zu investieren. Dafür muss es Spielräume geben. Ich bin also für eine Senkung von Steuern für Beschäftigte und Betriebe.

Wie will die FDP die Kluft zwischen Arm und Reich verringern? Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung kommen wir immer mehr in die Nähe von US-Verhältnissen bei der Vermögensverteilung.
Wir müssen die Aufstiegschance für jede Frau und jeden Mann erhöhen. Wir brauchen einen treffsicheren Sozialstaat, der für die Menschen ein Sprungbrett in die Selbstbestimmung ist und nicht wirkt wie ein Magnet, der Menschen eher festhält. Die größte Form der Ungleichheit ist für mich die der Bildung. Nirgendwo sonst in entwickelten Gesellschaften entscheidet der Zufall der Geburt so sehr über Lebenschancen. Das halte ich für einen Skandal! Wir brauchen mehr Frühförderung von Kindern, hinsichtlich des Spracherwerbs schon vor der Einschulung, und viel mehr individuelle Förderung an öffentlichen Schulen. Kein junger Mensch sollte die Schule ohne einen Abschluss verlassen.

Die SPD Nordrhein-Westfalen nannte 2009 Ihre Landes-FDP die „Partei der sozialen Kälte“. Grund: Die schwarz-gelbe Regierungskoalition kürzte die Landesgelder für Obdachlosenhilfe damals um 1,12 Millionen Euro. Sie sagten damals, die Kommunen seien alleine für die Obachlosenhilfe zuständig. Sehen Sie das heute noch so?
Der Ausflug in die Geschichte ist noch nicht vollständig. Denn zeitgleich hat die von der FDP mitgetragene Bundesregierung die Kommunen von den Kosten der Grundsicherung im Alter entlastet. Das machte für die Städte und Gemeinden seitdem Hunderte von Millionen Euro an Einsparungen aus, die zum Beispiel für soziale Vorhaben oder Investitionen genutzt werden könnten. Oberstes Ziel: So lange es geht, müssen Menschen ihre Wohnung behalten können, sei es mittels Grundsicherung, Schuldnerberatung, gesundheitlicher Hilfestellung. Das muss nah am Menschen geschehen, also auf der kommunalen Ebene. Genauso vielschichtig wie die Problemlage muss das Hilfesystem sein.

Obdachlosigkeit ist heutzutage vorwiegend ein Ergebnis von Migration: Immer mehr Menschen aus armen EU-Ländern landen in prekären Arbeitsverhältnissen, sei es auf Schlachthöfen oder auf Baustellen oder als Putzkräfte, und im Winter dann oft auf der Straße. Was würde die FDP in einer Regierungskoalition tun, um dieses Elend zu stoppen?
Wir müssen über die Qualität der Arbeitsverhältnisse nachdenken, zum Beispiel im Bereich der fleischverarbeitenden Industrie. Und wir müssen die Verantwortung der Herkunftsländer stärken. Das ist eine Frage, die man hinsichtlich der Migration in Europa stellen muss: Was ist mit der sozialen Verantwortung jedes einzelnen EU-Mitgliedsstaats? Zum Arbeiten nach Deutschland zu kommen, darf nicht zu Verelendung führen. Es geht um eine unbearbeitete Aufgabe, die sich durch die Freizügigkeit innerhalb der EU stellt.

Die Mindestlöhne für Saisonkräfte liegen häufig unter dem gesetzlichen Mindestlohn von 9,50 Euro. Die SPD will den Mindestlohn auf 12 Euro abheben. Was versprechen Sie prekär Beschäftigten?
Eine Aufstiegsperspektive. Unsere Hauptanstrengung muss darin liegen, dass niemand dauerhaft zu den Bedingungen eines Mindestlohns oder generell prekär arbeiten muss. Die Perspektive sollte sein, immer wieder neue Qualifikationsangebote zu unterbreiten, und zwar maßgeschneiderte. Was die Untergrenze des Mindestlohns angeht: Wir haben gute Erfahrung damit, dies in die Hände einer unabhängigen Kommission zu legen, die dafür sorgt, dass der Mindestlohn regelmäßig angepasst wird, und dass die Lohnfindung nicht politisiert wird. Nicht parteipolitische Interessen dürfen eine Rolle spielen, sondern arbeitsmarkt- und sozialpolitische Erwägungen.

Die FDP spricht sich aus für „Housing First“, also dass Obdachlose erstmal eine Wohnung bekommen, ohne groß nachweisen zu müssen, dass sie dafür geeignet sind. Wie sollen die Kommunen das finanzieren?
Ich bin dezidiert der Meinung, dass wir die kommunale Ebene stärken müssen. Weil sich die Aufgaben der unterschiedlichen öffentlichen Ebenen verändern. Aufgaben, die der Staat den Gemeinden überträgt, muss er immer mitfinanzieren. Die Kommunen sind unser erstes Auffangnetz bei Notlagen.

In Wien gibt es neuerdings als Housing-First-Angebote „Chancenhäuser“: Hier werden Obdachlose – einzeln, als Paar, als Familie – für drei Monate einquartiert und beraten bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. In der Hälfte der Fälle mit Erfolg …
… klingt für mich nach einem guten Modell auch für deutsche Kommunen, ein maßgeschneidertes 360-Grad-Konzept aus der Obdachlosigkeit.

Ihre Partei fordert, dass der Staat elektronische Akten für obdachlose Menschen einrichtet, damit sie auch ohne Meldeadresse an ihre privaten Daten kommen können. Wären Sie für solche E-Akten für alle Bürger?
Unbedingt. Ich war vor einiger Zeit in Estland: Dort können Sie Ihre Meldeanschrift genauso leicht wie Ihre Anschrift im Amazon-Account ändern. Die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung scheint mir besonders nach den Erfahrungen in dieser Pandemie enorm wichtig: Lassen wir Corona das letzte Kapitel im Leben des Faxgeräts gewesen sein!

Sie werfen den Grünen vor, den Menschen den Traum vom eigenen Haus zu vermiesen. Zugleich fehlen allenthalben bezahlbare Wohnungen. Dafür hören wir Sie weniger laut trommeln. Zufall?
Das Gegenteil ist der Fall: Keine Partei setzt sich ähnlich stark für bezahlbaren Wohnraum ein wie die FDP und ist auch bereit, die entsprechenden Entscheidungen zu treffen. Wer bezahlbare Wohnungen will, der muss so viel wie möglich bauen, beispielsweise hier in Berlin auch auf dem Tempelhofer Feld. Der muss Flächen bereitstellen. Und der kann nicht, wie die Grünen, bauliche Standards über Gebühr erhöhen und damit verteuern. Weil dann nicht einmal mehr große Baugenossenschaften Mietwohnungen errichten können. Wir wollen die Wohnungsnot reduzieren durch mehr Angebot. Schlüssel dazu: Senken von Baustandards, Ausweisen neuer Flächen, weniger Grunderwerbssteuer.

Geht denn beides, wenn Deutschland die Pariser Klimaschutzziele erreichen will: Kann man den fortschreitenden Flächenverbrauch senken und zugleich mehr Wohnungen und Einfamilienhäuser bauen?
Der Klimaschutz ist eine globale Aufgabe. Nur in Hückeswagen im Bergischen Land CO2 einzusparen, indem man auf neue Einfamilienhäuser verzichtet, macht für das Weltklima keinen echten Unterschied. Die Grünen wählen für den Klimaschutz ihren Weg, wir einen anderen: globales Denken und Ideenwettbewerb. Wir müssen mit entwickelter Technologie die Steigerung des CO2-Ausstoßes begrenzen. Also etwa Millionen von Pkw in Deutschland mit synthetischen, klimafreundlichen Kraftstoffen versorgen – statt einseitig nur auf die Elektromobilität zu setzen.

Wie steht es mit dem Bau von Sozialwohnungen? Die SPD verspricht 100.000 pro Jahr. Gehen Sie da mit, und wenn ja, soll die der private Sektor bauen oder die öffentliche Hand?
Ich würde immer die Förderung von Menschen der Förderung von Steinen vorziehen. In die Sozialwohnung ist vielleicht der studentische Bafög-Empfänger eingezogen und hat sie noch als Professor bewohnt. Ich bin ein Befürworter individueller Wohnkostenzuschüsse, für die individuelle Bedarfslage. Privaten Bauträgern bestimmte Auflagen zu unterbreiten, halte ich für denkbar. Also zum Beispiel: Wenn jemand ein Haus mit acht Wohneinheiten baut, kann sie oder er die beiden Penthousewohnungen zu hohen Quadratmeterpreisen anbieten, solange in tieferen Etagen günstige Wohnungen entstehen. Diese Mischung hätte zugleich eine gesellschaftspolitisch wünschenswerte Pluralität zur Folge.

Sie haben vor einem Jahr zugelassen, dass ein FDP-Politiker mit Stimmen der AfD thüringischer Ministerpräsident wurde. Ein Fehler, haben Sie hinterher gesagt. Mit Ihren Positionen zu Corona sind Sie wieder nahe an der AfD: Sie fordern Öffnungen, für Läden, für Hotels – freilich bei mehr Schutz von Risikogruppen. Sie sagen dabei nicht, dass Corona ein Virus ist, dass Ärmere viel häufiger trifft, weil sie beengt wohnen und nicht im Homeoffice arbeiten können. Ist Ihnen deren Gesundheit egal?
Sie haben eine Frage gestellt, die der Sortierung bedarf. Ich habe auf gar keinen Fall zugelassen, dass jemand mit den Stimmen der AfD gewählt worden ist. Sondern ein aufrechter Demokrat ist in eine Falle der AfD gelaufen. So hat es Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei formuliert. Zweitens ist die Pandemiepolitik der FDP nicht vergleichbar mit der der AfD. Wir wollen durch innovative Maßnahmen mehr gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben erlauben, aber sehen das Risiko, dass in der Erkrankung liegt und leugnen es nicht. Man tut der AfD einen Gefallen, wenn man sie in einem Atemzug mit der FDP nennt und verharmlost die politische Gefahr, die von ihr ausgeht. Dritter Punkt: Gesundheitsschutz darf nicht abhängig sein von Lebensverhältnissen. Masken oder Schnelltests müssen an Menschen abgegeben werden, die sich das nicht selbst leisten können, damit wirkungsvolle Hygiene keine Frage des Einkommens ist.

Olaf Scholz haben wir gefragt, was er macht, wenn er nicht Kanzler wird. Sie fragen wir, was Sie machen, wenn Schwarz-Grün Sie zum Tanz bittet: Werfen Sie wieder hin, wenn nicht nach Ihrer Pfeife getanzt wird?
Wenn es eine gemeinsame Choreographie gibt, sind wir gerne mit dabei. Aber nach der Pfeife anderer tanzen, beziehungsweise das, was vor der Wahl versprochen wurde, nicht zu liefern, wäre respektlos.

Und wenn Sie Vizekanzler wären: Was würden Sie als erstes versuchen zu ändern?
Für Aufstiegsgerechtigkeit sorgen! Meine Leidenschaft gehört denen, die ihren Weg gehen wollen. Keinem geht es besser, wenn wir „denen da oben“ etwas wegnehmen, etwa durch eine Vermögensteuer. Sondern die Frage ist: Wie ändern wir das Leben derer, die aufsteigen wollen. Da will ich für neue Chancen sorgen.

Hat die SPD genug Bodenhaftung, Herr Scholz? 

Hinz&Kunzt: Herr Scholz, dieses Interview führe ich für 20 Magazine, die in 20 deutschen Städten von Menschen ausgetragen werden, die obdachlos waren oder sind. Hand aufs Herz: Wann haben Sie zuletzt eine Straßenzeitung gekauft? 

Olaf Scholz: Oh, das ist einige Zeit her! Das ergibt sich meistens, wenn ich in einem Restaurant sitze und eine Verkäuferin oder ein Verkäufer an meinen Tisch kommt. Seit Corona geht beides nicht. 

Früher wählte vor allem der „Kleine Mann“ Ihre Partei; heute ist der Anteil der Wähler*innen aus einkommensarmen Schichten vergleichsweise gering. Fehlt es der SPD an Bodenhaftung?

Nein, im Gegenteil. Wie oft habe ich an Info-Ständen die Klage gehört: „Um einen wie mich geht’s ja nicht.“ Doch! Wir machen Politik für dich! Das ist der Grund, warum ich überhaupt in der Politik bin. Die Corona-Krise ist da auch eine Chance: Denn der Beifall für die Corona-Held*innen darf nicht einfach nur verhallen, die Anerkennung muss sich auch im Portemonnaie niederschlagen. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der diejenigen, die in einem schicken Viertel ihren Café Latte trinken, sich mit denen politisch verbinden, die ihnen den Kaffee an den Tisch bringen. Die Theater-Regisseurin ist genauso Teil der Gesellschaft wie der Altenpfleger oder die Ingenieurin. Wenn ich Kanzler werde, wird als einer der ersten Entscheidungen der Mindestlohn auf mindestens 12 Euro angehoben. Wir stehen für bessere Löhne und sichere Arbeitsplätze: in der Pflege, an den Discounterkassen, in den Logistikzentren.

678.000 Menschen haben laut der letzten Schätzung hierzulande keine eigene Bleibe – doch Ihr Wahlprogramm erwähnt wohnungslosen Menschen nirgends. Sind das keine Wähler für die SPD? 

Natürlich taucht das Thema Wohnungsnot in unserem Programm auf. Wir setzen uns massiv dafür ein, dass in Deutschland mehr Wohnungen gebaut werden, bezahlbare Wohnungen. Bevor ich in Hamburg Bürgermeister wurde, habe ich verlangt, dass wir viel mehr Wohnungen bauen müssen, weil viele unter den steigenden Mieten sehr leiden. Wir haben den Wohnungsbau in Hamburg richtig angekurbelt, mit 10.000 Baugenehmigungen pro Jahr – ein Drittel Eigentums-, ein Drittel Miet- und ein Drittel Sozialwohnungen. Als Bundesfinanzminister habe ich mit durchgesetzt, dass eigens das Grundgesetz geändert wird, damit der Bund den sozialen Wohnungsbau weiterhin unterstützen kann. Mein Ziel: 100.000 neue Sozialwohnungen in Deutschland pro Jahr. Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit.

Und was ist mit den Menschen ohne deutschen Pass? Die heutigen Obdachlosen sind mehrheitlich nicht-deutsch, sondern etwa aus Polen, Rumänien, Bulgarien. Im Sommer malochen viele auf Baustellen oder in der Landwirtschaft, im Winter fängt unser soziales Netz sie oft nicht auf. Wie will die SPD das ändern? 

Unser Ansatzpunkt: Der Kampf gegen die Ausbeutung von Arbeitskräften und illegale Beschäftigungsverhältnisse. Die Zustände in der Fleischindustrie oder auf dem Bau sind schlimm – deshalb haben wir reagiert. Der Zoll hat neue Kontrollkompetenzen erhalten und mehr Personal, um die Branchen strikter zu überprüfen. Mich empört es, wie viele lange Zeit hingenommen haben, dass so etwas mitten in Deutschland geschieht – Knebelverträge, die den Beschäftigten fundamentale Rechte vorenthalten und sie unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht haben. Es muss darum gehen, jenen das Handwerk zu legen, die an solcher Ausbeutung verdienen. 

Reicht das, um den südosteuropäischen Wanderarbeiter*innen zu helfen? 

Die Europäische Union garantiert die Freizügigkeit. Und es gilt das hiesige Arbeitsrecht, das die Arbeitgeber in der Pflicht sieht – das müssen wir durchsetzen. Die Wanderarbeiter*innen müssen wir über ihre Rechte in ihrer jeweiligen Muttersprache informieren, viele wissen gar nicht, was ihnen zusteht. Gemeinsam mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil habe ich das DGB-Projekt „Faire Mobilität“ besucht, das Arbeitsmigrant*innen genau diese Unterstützung bietet.

Berlin hat begonnen, Obdachlosen Wohnungen ohne Vorbedingungen anzubieten, Stichwort „Housing first“. Hamburg tut das nicht. Was halten sie von dem Modell? 

Erst mal ist es wichtig, dass die Kommunen für alle, die auf der Straße leben, gut erreichbare und niederschwellige Angebote vorhalten. Jetzt in der Corona-Krise bleiben vielerorts die Unterkünfte über die kalte Winterzeit hinaus offen bis in den Frühling …

… also sind Sie nicht für „Housing First“? Finnland feiert damit bereits Erfolge.

Diese Fragen liegen in der Entscheidungskompetenz der Städte und Gemeinden – und dort gehören sie auch hin. Da gibt es viele gute Ansätze. Zwei Herausforderungen sollten wir aber unterscheiden: Zum einen die wachsende Migration innerhalb der EU, die die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt steigen lässt. Und zum zweiten diejenigen, die seit Jahren auf der Straße leben. Was aus der Perspektive der jeweils Betroffenen der richtige Weg ist, kann nur vor Ort sachgerecht entschieden werden. 

Sie haben sich mal als „Sehr-Gut-Verdiener“ bezeichnet. Die „KiPPe“ aus Leipzig fragt, ob Leute wie Sie höhere Steuern zahlen sollen?

Ja, unbedingt! Diejenigen, die sehr viel verdienen – und dazu zähle ich – sollen mehr Steuern zahlen, um Leute mit mittleren und niedrigeren Einkommen zu entlasten. Wir brauchen ein faires und gerechtes Steuersystem. 

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung stellte 2014 fest, dass die 45 reichsten Haushalte hierzulande soviel Geld haben wie die ärmere Hälfte aller Haushalte zusammen. Dieses Ungleichgewicht nimmt jetzt noch zu; die Regierungs-Bazooka sieht etwa für Hartz-IV-Empfänger bloß eine Einmalzahlung von 150 Euro vor. Wieso wächst die soziale Schieflage trotz einer mitregierenden SPD? 

Diese Frage ist, mit Verlaub, etwas platt. Gerade in der Pandemie hilft der Staat sehr umfassend allen Bevölkerungsschichten. In allererster Linie geht es um den Schutz von Leib und Leben von uns allen. Und es geht um den Schutz von Beschäftigten und Unternehmen, die unter den massiven Beschränkungen zu leiden haben, die wir ergreifen mussten, um die Ausbreitung des Virus zu begrenzen. Wir setzen Milliarden ein, um durch die Kurzarbeits-Regel Arbeitsplätze zu retten. Das macht uns gerade ganz Europa nach. Familien unterstützen wir mit dem Corona-Kinderbonus, der auch Familien in Grundsicherung zukommt und bald zum dritten Mal ausgezahlt wird. Und mir ist klar, was nach dieser Krise nicht passieren darf: Wir dürfen den Sozialstaat, der uns gerade ganz gut durch diese Pandemie bringt, hinterher nicht kaputtsparen. 

Die SPD will Hartz-IV in ein „Bürgergeld“ verwandeln. Sozial fänden die Sozialverbände, wenn der Regelsatz auf 600 Euro ansteigen würden. Gehen Sie da mit? 

Die Corona-Krise hat eins gelehrt: Plötzlich sind Bürger*innen in eine unverantwortete finanzielle Krise geraten, die zuvor nie damit gerechnet hätten. Das hat uns allen gezeigt, wie wichtig es ist, dass der Staat helfend zur Seite steht und nicht noch Steine in den Weg legt. Darin liegt eine große Chance für unser Bürgergeld: Fördern, fördern, fördern – ohne mit nickeligen Sanktionen auszubremsen. Wenn etwa ein Selbständiger Grundsicherung in Anspruch nimmt, muss er sich deshalb nicht einen neuen Job suchen, sondern kann sein Geschäft wieder auf den richtigen Weg bringen. Er muss auch nicht aus seiner Wohnung und darf seine Rücklagen behalten. Der US-Philosoph John Rawls hat mal treffend gesagt: Wenn eine Gesellschaft neu konstruiert wird – und das wollen wir mit dem Bürgergeld – möge man bedenken, dass man nicht weiß, ob man künftig arm oder reich sein wird. 

Bitte Butter bei die Fisch’: HartzIV auf 600 Euro anheben, ja oder nein?

Klar ist: Bei den Regelsätzen gibt es Steigerungsbedarf. Um die Schwächsten vor politischer Willkür zu schützen, darf der Regelsatz aber nicht auf Zuruf – auch nicht via Interviews – festgesetzt werden, sondern muss sich aus den dahinterliegenden Regeln ergeben. 

Statt eines bedingungslosen Grundeinkommens will Ihre Partei das Recht auf Arbeit einführen. Wo kann man dieses Recht dann einklagen? 

Unser Land steht vor Weichenstellungen, die entscheidend sein werden für unsere Zukunft. Die Frage ist: Schaffen wir es, den Klimawandel erfolgreich einzudämmen und gleichzeitig technologisch in der Weltspitze zu bleiben und weiterhin über gut bezahlte Arbeitsplätze zu verfügen? Das geschieht nicht von allein, darum muss man sich kümmern. Beispielsweise indem wir die Erneuerbaren Energien viel stärker ausbauen als bislang geplant, in dem wir in die Wasserstoff-Forschung investieren, damit wir über saubere und verlässliche Energie verfügen, wenn kein Wind weht und die Sonne nicht scheint. Denn wir werden viel mehr grünen Strom brauchen, damit CO2-neutrales Wirtschaften in der Stahl-, Chemie- und Automobilindustrie möglich wird. Die Industrie-Unternehmer wissen das, die Politiker*innen von CDU/CSU eher nicht. 

Und warum kein bedingungsloses Grundeinkommen?

Weil ich den Verdacht nicht loswerde, dass es vor allem dazu führt, Leute abzufinden, statt sich um sie so zu kümmern, dass sie in Arbeit kommen. 

Was bringt das Recht auf Arbeit?

Es formuliert einen Anspruch des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft. Die Bundesagentur für Arbeit muss zu einer Arbeitsversicherung ausgebaut werden, die aktiv dafür sorgt, dass man mit einer neuen Qualifikation auch einen neuen Beruf ausüben darf. Ich bin dafür, dass auch eine 40-Jährige oder ein 50-Jähriger nochmal einen komplett neuen Job erlernen kann und dass es darauf einen Rechtsanspruch gibt. 

Ihre Partei will eine Welt ohne Atomwaffen, der Genosse Außenminister hat sich dagegen jüngst gegen den Atomwaffenverbotsvertag ausgesprochen. Deutschlands „nukleare Teilhabe“ ist freilich auch teuer: Allein die Nachfolger für die alten Atomwaffenträger vom Typ Tornado kosten rund zehn Mrd. Euro. Wo stehen Sie: Werden Sie die Atomwaffen hierzulande abschaffen und das Geld für Bildung, Soziales, Gesundheit und das Klima einsetzen?

In den Haushalten, die ich als Bundesminister der Finanzen aufgestellt habe, haben die Investitionen in Bildung, Soziales, Gesundheit, Verkehr und Klimaschutz ein Rekordniveau erreicht. 2020 waren es insgesamt mehr als 50 Milliarden Euro. So will ich es als Regierungschef beibehalten. Zugleich braucht Deutschland eine verlässliche Bundeswehr, die fest in der NATO verankert ist. Ein starkes, souveränes Europa erfordert dies. Und wir setzen uns für Rüstungskontrolle und Abrüstung ein. Unser Ziel ist eine atomwaffenfreie Welt.   

Ein Finanzskandal aus Hamburg verfolgt Sie: Kürzlich wurde bekannt, dass der Chef der Warburg Bank einen Bettelbrief, den er Ihnen im November 2016 übergeben hatte, auf Ihre Anregung hin auch an den damaligen Finanzsenator und heutigen Bürgermeister Peter Tschentscher schickte. Wenige Tage danach hat die Finanzbehörde entschieden, Ansprüche auf 47 Millionen Euro verfallen zu lassen – Gelder, die sich die Bank via Cum-Ex-Geschäfte erschlichen hatte. Wie erklären Sie diese zeitliche Nähe?

Die Kurzfassung: Es hat keinerlei politische Einflussnahme auf die Entscheidung des Finanzamtes Hamburg gegeben. 

Sie haben den Deutschen gerade zehn Millionen Covid-19-Impfdosen pro Woche versprochen, Sie haben Hamburg mal den G20-Gipfel als eine Art Hafengeburtstag verkauft. Zocken Sie gerne?
Sie werden sicherlich genau hingehört haben: Ich habe darauf hingewiesen, dass wir wohl bald den Punkt erreichen werden, an dem wir mehr Impfstoff haben werden als wir mit unseren jetzigen Kapazitäten verimpfen können. Darauf müssen wir uns vorbereiten. Ab April werden wir mehrere Millionen Impfungen pro Woche machen müssen, bis Ende Juni werden es bis zu zehn Millionen Impfdosen sein – so habe ich es gesagt. Ich möchte nicht erleben, dass wir Impfstoff auf Halde haben statt in den Oberarmen der Patienten. 

Zuletzt eine Frage, die wir schon Robert Habeck gestellt haben: Was würden Sie als erstes tun, wenn Sie Bundeskanzler würden?

Einen Mindestlohn von 12 Euro einführen.

Und was werden Sie tun, wenn Sie nicht Kanzler werden? 

Ich werde Kanzler.

Wieviel Rot steckt in Grün, Herr Habeck?

Hinz&Kunzt: Herr Habeck, vor Ihnen sitzen 15 deutsche Straßenzeitungen, angesiedelt zwischen Kiel und München, Düsseldorf und Dresden. Gemeinsamer Nenner unserer Fragen: Wie rot sind diese Grünen eigentlich, die womöglich ab Herbst mitregieren? 

Robert Habeck: Wenn mit “rot” gemeint ist, eine gerechtere, sozialere Gesellschaft zu schaffen, kann ich sagen: Wir haben in den letzten drei Jahren unser sozialpolitisches Profil deutlich geschärft.

Tatsächlich will Ihre Partei Hartz IV abschaffen und durch eine “Grundsicherung” ersetzen, eine staatliche Leistung, die mehr Geld verspricht und an weniger Bedingungen geknüpft wäre. Der Einstieg in ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Es ist richtig, dass wir Hartz IV überwinden wollen. Wir wollen eine Garantiesicherung, damit jede und jeder verlässlich vor Armut geschützt ist. Sie sollte mit mehr Geld mehr Teilhabe ermöglichen und Anreize geben anstatt die Menschen mit Sanktionen zu gängeln. Von einem bedingungslosen Einkommen unterscheidet sich das, weil es eben doch an eine Bedingung geknüpft ist: Die Garantiesicherung sollen die erhalten, die es brauchen. 

Gegen Kinderarmut wollen die Grünen auch etwas tun: Eine steuerliche “Kindergrundsicherung” soll Kinder unabhängig vom Beziehungsstatus der Eltern fördern. Dafür soll das Ehegattensplitting weichen. Würden Sie eine schwarz-grüne Regierungsehe für die Abschaffung der ehelichen Splittingvorteile riskieren? 

Alle Kinder sollten dem Staat gleich viel wert sein. Das ist heute nicht der Fall. Gutverdiener erhalten für ihre Kinder faktisch mehr Geld, Kinder aus einkommensschwachen Haushalten haben deutlich schlechtere Chancen. Deshalb wollen wir eine Kindergrundsicherung, die allen Kindern garantiert, was sie zum Leben brauchen.  

Und wenn nicht, würden Sie dann über eine Abschaffung des Ehegattensplittings Koalitionsgespräche platzen lassen? 

Politik bedeutet, Veränderungen voranzubringen – und nicht, sich durch rote Linien zu lähmen. Wir argumentieren jeweils für unsere Ideen und versuchen, das Beste zu erreichen.

… und Hartz IV? Wäre die Abschaffung für Sie verhandelbar?

Es geht darum, politische Mehrheiten zu schaffen und dann möglichst viel durchzusetzen. Eine Status-Quo-Regierung wird es mit uns nicht geben. Was wir dann klima-, sozial- oder europapolitisch durchsetzen, hängt auch davon ab, wie gut wir bei der Wahl abschneiden. 

Im grünen Grundsatzprogramm steht oft das Wort “Umverteilung”. Würden unter einem Kanzler oder Vizekanzler Robert Habeck die Reichen zur Kasse gebeten? 

Ich halte die höhere Besteuerung von hohen Einkommen und Vermögen für angemessen und notwendig. 

“Trott-War” in Stuttgart sorgt sich um Ihr Image: Stört es Sie, als “netter Mann von nebenan” rüberzukommen und nicht als Staatsmann? 

Muss das ein Gegensatz sein? 

Heute tragen Sie ganz staatstragend Anzug. Was sagt der Staatsmann zur Corona-Krise: Würden Sie das Land in den knallharten Lockdown bis Ostern schicken, den Wissenschaftler um die Virologin Melanie Brinkmann als “No-Covid”-Strategie empfehlen?

Ich sorge mich sehr, dass die Strategien nicht mehr greifen, die wir vor dem Auftauchen der britischen und südafrikanischen Mutationen aufgestellt haben. Wenn die Mutante deutlich ansteckender ist als die Urform, dann dürften die bisherigen Inzidenzwerte als Schwelle nicht ausreichen. Das trifft freilich auf eine schwierige Stimmung, auf die Not von Alleinstehenden und Familien, gerade den Ärmeren. Und es ist eine Mammutaufgabe für die Politik: Auf der einen Seite die Notwendigkeit, die Regeln einzuhalten, und auf der anderen den gesellschaftlichen Druck, mehr Freiheiten zu gewähren. Das ist der Unterschied zwischen Politik und Wissenschaft: Die reine wissenschaftliche Lehre führt nicht automatisch zu einer erfolgreichen Umsetzung. 

Also keine No-Covid-Strategie?

Vorsicht muss Gebot der Stunde sein. Wenn wir zu früh lockern, gefährden wir den Weg aus der Pandemie. Und deshalb muss jetzt – und hätte schon längst – die volle Energie darauf gehen, die Voraussetzungen zu verbessern: Wenn wir als allererstes Grundschulen und Kitas vorsichtig und schrittweise für Wechselunterricht öffnen, müssen Millionen von Schnelltestes an Kitas und Schulen. Es braucht einen Kraftakt, um die Produktionskapazitäten für Impfstoffe zu steigern. Außerdem sollten jetzt schnellstmöglich alle Gesundheitsämter die Tracking-Software “Sormas” einführen, um live Infektionsherde nachzuverfolgen. Die nutzt nicht einmal die Hälfte Stand heute (9. Februar_Red).

Zoonosen wie Covid-19 entstehen, wenn der Mensch dem Tier zu wenig Raum lässt. Die Grünen wollen, dass Deutschland keine freien Flächen mehr versiegelt. Wollen Sie jungen Familien verbieten, auf dem Land zu bauen? 

Nein. Ich will, dass junge Familien gut wohnen können, auf dem Dorf und in der Stadt. Aber zu den Zoonosen: Unter anderem ist der globale Wildtierhandel, an dem Deutschland teilnimmt, eine echte Gefahr, weil er eben auch zoonotische Krankheiten begünstigt. Die Regulierung des Wildtierhandels muss daher ganz oben auf die Agenda… 

… und wie sieht es mit dem Platz für heimische Wildtiere aus?

Die Artenvielfalt ist auch durch den Verlust von Lebensräumen gefährdet. Die Bundesregierung selbst will den Flächenverbrauch halbieren. Und scheitert seit Jahren daran. Wir haben im Land eine starke Konkurrenz um Flächen: fürs Wohnen, für die Landwirtschaft, für Energie, für Infrastuktur, für Gewerbe… Es muss viel ineinander spielen: Es sollte zum Beispiel nicht günstiger sein, neue Flächen zu versiegeln als die alte Tankstelle abzureißen, den Boden zu sanieren und dort zu bauen. 

Ihre Partei will das Recht auf Wohnen im Grundgesetz verankern. Was versprechen Sie sich davon? 

Eine Umkehr von der sozialpolitischen Logik, wonach ein wohnungsloser Mensch erst beweisen muss, dass sie oder er mit den eigenen vier Wänden verantwortungsvoll umgehen kann, bevor er einziehen darf. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Sicherheit eines Dachs über dem Kopf animiert dazu, verantwortlicher und selbstbestimmter zu leben. Das Wohnrecht und die Grundsicherung sind für uns Pfeiler einer die Würde des Menschen achtenden Gesellschaft. 

Apropos Würde: Viele Obdachlose wollen nicht in die Winternotprogramme, weil sie Angst vor den Sammelunterkünften haben. Sie befürchten, ausgeraubt zu werden oder sich mit Corona anzustecken. In Hamburg trägt die grüne Regierungspartei 

die Großunterkünfte mit. Wie stehen Sie zum Ruf nach Einzelunterbringung?

Die Hotels und Hostels stehen leer: Dort Zimmer bereitzustellen, könnte sowohl den Hoteliers wie Obdachlosen helfen. Es gibt ja dazu Vorstöße, vor allem von privaten Initiativen, aber auch von der öffentlichen Hand. Ich finde es absolut richtig, angesichts der Pandemie diese Angebote deutlich zu erweitern. 

Bundestag und Europaparlament haben beschlossen, bis 2030 die Obdachlosigkeit abzuschaffen. Klingt schön, allerdings halten sich die Dinge oft nicht an EU-Beschlüsse. Sonst wären die EU-Gewässer seit 2015 in einem “guten Zustand”. Würde eine grüne Regierung Bundesmittel bereitstellen, damit die Kommunen Obdachlose in Wohnungen einquartieren wie es etwa Finnland vormacht mit seinem “Housing First”-Programm? 

“Housing First” überzeugt und korrespondiert mit unserer Forderung nach Wohnen als Grundrecht. Studien zufolge finanziert sich das quasi selbst: Man stellt am Anfang das Geld bereit, das man später wieder einspart, etwa für Sozialarbeit, Psychotherapie, Polizei, Prozesse. Wenn der Bund ernst machen will mit der Abschaffung der Obdachlosigkeit, sollte er den Kommunen bei “Housing First”-Programmen helfen. 

Der Trend geht in die gegenläufige Richtung: In Großstädten wie Hamburg hat sich die Zahl der Obdachlosen in den letzten zehn Jahren fast verdoppelt. Die Mehrheit stammt aus armen EU-Staaten. Sie kommen, um zu arbeiten, landen in prekären Beschäftigungsverhältnissen und stranden am Ende auf der Straße. Wie wollen die Grünen diese Elendsspirale beenden?

Wenn Menschen ihr Leben in ihrem Heimatland aufgegeben haben, um hier zu arbeiten und dann scheitern, sind sie ja trotzdem da. Wenn dann nur Obdachlosigkeit bleibt, verschärft sich das Elend. Deshalb wollen wir sie besser sozial absichern. Entscheidend ist aber, schon früher anzusetzen, also konsequent gegen Schwarzarbeit und Drückerlöhne zu kämpfen. Damit beginnt die Spirale ja viel zu oft. 

Viele Unions- aber auch SPD-Politiker befürchten eine Sogwirkung, wenn EU-Arbeitnehmer*innen gleich behandelt würde, also dass dann immer mehr Arbeitslose aus Rumänien, Polen oder Bulgarien einwandern. Wie sehen Sie das? 

Im Moment geraten die Leute ja vor allem in miserable Beschäftigungsverhältnisse. Wenn man die Gleichbehandlung an das Suchen und die Aufnahme von Arbeit knüpft, ist sie gerechtfertigt. Die Leute kommen her, um zu arbeiten, und nicht, um zu verarmen.

Aus der Stadt mit den höchsten Mieten, aus München mit der Zeitung “Biss”, kommt die Frage, wie die Grünen für billigen Wohnraum in teuren Städten sorgen wollen?

Bauen! Vor allem öffentliches Bauen hilft. Und wenn privat gebaut wird, sollten Quartiere einen Wohnungsanteil für Ärmere vorhalten müssen. 

Berlin hat einen Mietendeckel statt der Mietpreisbremse, der grüne Bezirk Friedrichshain trommelt für ein starkes Vorkaufsrecht der öffentlichen Hand bei Immobilien. Modelle für den Bund? 

Das sind Modelle für die extremen Hochpreisgebiete in den Kommunen. Es sind Eingriffe in den Markt, und man wird sehen, wie  das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Aber  wenn Wohnen ein Recht ist, braucht der Staat auch Mittel, um es durchsetzen zu können. 

Aus welchen Etats soll das Geld herkommen – für die Grundsicherung, für “Housing First”-Wohnungen, für Frauenhäuser: Wollen die Grünen weniger für Rüstung zahlen? Oder den Bauern weniger geben? Sollen die Steuern steigen? 

Die Investitionsausgaben würden wir kreditfinanzieren. Dazu gehören Neubauten und Sanierungen, aber auch der Bau von Frauenhäusern, Obdachlosenunterkünften. Wir werben seit langem dafür, die Schuldenbremse dafür zu reformieren, und es gibt jetzt auch Stimmen aus der CDU in die Richtung. Konsumtive Ausgaben wie die Garantiesicherung müssen sich aus Steuern refinanzieren. Die größte Gerechtigkeitslücke, die wir haben, sind dabei nichtbezahlte Steuern. Wenn wir konsequent Steuerbetrug bekämpfen würden, stünden EU-weit zwei- bis dreistellige Milliardensummen zur Verfügung. Da müssen wir handeln.

Schwerins Straßenzeitung hat ihre Verkäufer*innen gefragt, mit welchem Promi sie gerne Kaffee trinken würden. Die Menschen nannten Popstars, Sportler und Schauspieler*innen; mit einem Politiker wollte niemand Kaffee trinken. Warum ist Ihre Kaste so unbeliebt?

Vielleicht, weil Streit zum Wesen der Demokratie gehört und Streitende unsympathisch sind. Aber es ist in den letzten Jahren viel Vertrauen in die Handlungsfähigkeit und Fairness der Politik verloren gegangen. Gewinne von Banken und Spekulanten wurden privatisiert, Verluste zahlte die Allgemeinheit. Was sich eingebrannt hat, ist das Gefühl, die Politik schützt die Macht, nicht die Menschen. Ich glaube, dass wir als Politikerinnen und Politiker sehr daran arbeiten müssen, dass Vertrauen wieder herzustellen.

“die straße” hat zwei weitere Fragen: Was wollten Sie als Kind mal werden? 

Sie meinen, nach Feuerwehrmann? Ich wollte schon früh Schriftsteller oder Politiker werden. Ich war immer Klassensprecher, Schulsprecher, Studierendenvertreter. Nur als ich Vater wurde, war ich erstmal nur: Papa. 

Und was würden Sie als erstes ändern, wenn Sie Bundeskanzler wären? 

Am liebsten: Das Containern erlauben! Das ist gewiss nicht die wichtigste Reform. Aber das Verbot, brauchbare Lebensmittel zu retten, ist eine Sache, die mir besonders unsinnig erscheint und die man schnell ändern könnte. 

Mehr als eine Nummer

mehr als eine nummer
Jürgen Knörr „ist drin“ im Netz, Bufdi Leo Frank freut‘s. Steffi Lenk vom Vertriebs-Team des Vereins hat die ersten Smartphones organisiert.

30 Jahre war Jürgen Knörr in Indien. Jetzt ist er zurück in Nürnberg, noch wohnungslos – aber bald nicht mehr ohne Anschluss. Denn der Verein Straßenkreuzer trägt mit seiner Initiative „Mehr als eine Nummer“ dazu bei, dass der Zugang zu Internet und Kommunikation für arme und dazu oft technikferne Menschen schwellenfrei wird – mit gespendeten Smartphones, einem Starterset und ein wenig Geduld.

Die Geduld braucht vor allem Leo Frank, unser Bundesfreiwilligendienstleistender, kurz Bufdi. Leo sitzt an diesem Vormittag mit Jürgen an einem großen Tisch und sichtet Smartphones. Drei Stück sind schon da, alle gespendet vom Team der Firma Genesis Umwelt Consult aus Schwabach. Wie so oft starten Projekte dank unkomplizierter Netzwerke. In diesem Fall über Steffi Lenk. Steffi arbeitet beim Mittelständler Genesis und seit ungefähr fünf Jahren in ihrer Freizeit ehrenamtlich im Vertriebs-Team des Straßenkreuzers. Ihre Kolleginnen und Kollegen bei Genesis tauschen, wie viele Zeitgenossen, ab und an ihr Smartphone gegen ein neueres. Ein paar ältere, funktionstüchtige Geräte hat Steffi als Spende mitgebracht.

Jürgen wählt sich eines mit grüner Schutzhülle aus – „die Farbe passt zu mir“. 67 Jahre ist er alt, in Indien hat er lange als Bettelmönch am Ganges gelebt (wir berichteten in 03/2021), jetzt hat er im Domus, Haus für Männer der Caritas, ein erstes Zuhause bekommen. „Das hab ich schon verstanden, dass man so was hier braucht“, sagt er über das Handy. Der 19-jährige Leo hat es inzwischen ans Ladekabel gesteckt, beginnt mit einer ersten Einführung – und landet sofort, na ja, Anfang der 1990er Jahre ungefähr. „SIM-Karte?“, fragt Jürgen, „was ist das?“. Flat, Router, WLAN? („Ach, ist das dieses WiFi, das an den indischen Cafés stand?“) – Leo muss immer wieder anders formulieren, was ihm sonst selbstverständliches Vokabular ist. Die beiden haben viel Spaß – „Das Wischen hab ich noch nicht drauf“, „Notruf gibt’s auch!“. Leo freut sich, dass Jürgen mit dem Berührbildschirm (Leo: „Touchscreen“) bald klarkommt. Nächstes Mal bringt er seinen druckfrischen Personalausweis mit. Dann holen die beiden ein Starterpaket vom Discounter plus erstes Guthaben – und dann meldet Jürgen sich mit seiner neuen E-Mail-Adresse an und ist hoffentlich bald selbstverständlich drin im weltweiten Netz. 

Der Verein Straßenkreuzer übernimmt die Startkosten und das erste Guthaben für die Smartphones aus Spendengeldern. Da einzig Bufdi Leo Frank für die Einführung zur Verfügung steht, bleibt „Mehr als eine Nummer“ ein kleines Projekt mit bis zu zehn Mobiltelefonen. Zehn Mal ein Symbol dafür, dass spätestens seit Corona klar ist, dass jeder Mensch befähigt werden sollte, an Information und Kommunikation teilhaben zu können. 

Text und Fotos: Ilse Weiß | strassenkreuzer.info